Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Medicus 01 - Der Medicus

Titel: Medicus 01 - Der Medicus
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
Derartiges erlebt.
    Liebe Agnes, betete sie in dumpfem Schweigen. Liebe Agnes, der du den Lämmern hilfst, hilf auch mir!
    Sie betete immer, wenn sie Wehen hatte, zu ihrer Namensheiligen, doch diesmal war die ganze Welt ein unablässiger Schmerz, und das Kind steckte in ihr wie ein großer Pfropfen.
    Schließlich erregten ihre rauen Schreie die Aufmerksamkeit einer vorbeigehenden Hebamme, eines alten Weibes, das ziemlich betrunken war und die Gaffer fluchend aus dem Stall jagte. Als sie wieder zurückkam, betrachtete sie Agnes angewidert. »Die verdammten Männer haben dich in der Scheiße abgesetzt«, murmelte sie.
    Sie wusste keinen anderen Platz, an den sie Agnes hätte bringen können. Sie schob ihr die Röcke bis zur Taille hinauf und schnitt die Unterwäsche weg; dann fegte sie auf dem Boden vor der offenen Vulva den strohigen Dung mit den Händen beiseite, die sie an ihrer schmutzigen Schürze abwischte.
    Aus ihrer Tasche zog sie ein Glas mit Schweinefett, das schon vom Blut und den Säften anderer Frauen dunkel gefärbt war. Sie nahm etwas von dem ranzigen Fett heraus und bewegte die Hände wie beim Waschen, bis sie eingeschmiert waren. Dann schob sie zuerst zwei Finger, dann drei, dann die ganze Hand in die erweiterte Öffnung der pressenden Frau, die jetzt wie ein Tier heulte.
    »Es wird dir noch doppelt so weh tun, Frau«, sagte die Hebamme nach einigen Augenblicken und schmierte ihre Arme bis zu den Ellbogen ein. »Der kleine Kerl könnte sich selbst in die Zehen beißen, wenn er wollte. Er kommt mit dem Arsch voran heraus.«

Eine Zunftfamilie
    Rob wollte zuerst zum Puddle Dock laufen. Dann wurde ihm aber klar, dass er seinen Vater finden musste, und er rannte zum Zunfthaus der Zimmerleute, was für jedes Kind eines Mitglieds bei Schwierigkeiten verständlich war.
    Die Londoner Zunft der Zimmerleute war am Ende der Carpenter's Street in einem alten Gebäude aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk untergebracht, einem Fachwerk aus Pfosten, die mit Weidenruten und -zweigen verflochten und dick mit Mörtel bedeckt waren, der alle paar Jahre erneuert werden musste. In dem geräumigen Haus saßen ein Dutzend Männer in Lederwämsen und mit den Werkzeuggürteln ihres Handwerks auf den rohen Stühlen, welche die fürs Haus zuständigen Mitglieder hergestellt hatten. Rob erkannte Nachbarn und Mitglieder der Zehnschaft seines Vaters, sah aber Nathanael nicht. Die Zunft war für die Londoner Holzarbeiter alles: Büro, Krankenhaus, Beerdigungsinstitut, gesellschaftliches Zentrum, Wohlfahrtsorganisation in den Zeiten der Arbeitslosigkeit, Schiedsrichter, Stellenvermittlung und Verdingungshalle, politischer Rückhalt und moralische Stütze. Es handelte sich um eine straff organisierte Gesellschaft, die aus vier Gruppen von Zimmerleuten bestand, die Hundertschaften genannt wurden. Jede Hundertschaft bestand aus zehn Zehnschaften, die gesondert und in vertrautem Kreis zusammenkamen, und erst wenn eine Zehnschaft ein Mitglied durch Tod, dauernde Erkrankung oder Abwanderung verlor, wurde ein neues Mitglied als Zimmermannslehrling in die Zunft aufgenommen, für gewöhnlich gemäß einer Warteliste mit den Namen von Söhnen der Mitglieder. Das Wort des Zunftmeisters besaß genauso viel Gewicht wie das eines Fürsten, und zu dieser angesehenen Person, Richard Bukerei, rannte Rob jetzt.
    Bukerei ging gebückt, als laste die Verantwortung bildlich auf seinen Schultern. Alles an ihm war dunkel. Sein Haar war schwarz, seine Augen hatten die Farbe von gealterter Eichenrinde; seine engen Hosen, der Kittel und der Wams waren aus grobem Wollstoff, den man gefärbt hatte, indem man ihn mit Walnussschalen kochte, und seine Haut hatte die Farbe von gebeiztem Leder, das die Sonne bei tausend Hausbauten gegerbt hatte. Er bewegte sich, dachte und sprach bedächtig und hörte Rob aufmerksam zu. »Nathanael ist nicht hier, mein Junge.«
    »Wisst Ihr, wo man ihn finden kann, Master Bukerei?« Bukerei zögerte. »Entschuldige mich, bitte«, sagte er endlich und ging zu einigen Männern, die in der Nähe beisammensaßen. Rob verstand nur gelegentlich ein Wort oder einen geflüsterten Satz. »Bei diesem Weibsstück ist er?« murmelte Bukerei. Einen Augenblick später kam der Zunftmeister zurück. »Wir wissen, wo wir deinen Vater finden können«, erklärte er. »Lauf zu deiner Mutter, mein Junge! Wir werden Nathanael holen und gleich nachkommen.«
    Rob stammelte seinen Dank hervor und rannte davon. Er blieb nicht einmal stehen, um Luft zu holen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher