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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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gab es nicht die späteren häßlichen Betonschwellen der Armee, auf denen die Jeeps fahren konnten, oder gar eine Kaufhalle – wie in Vitte. Wie hätte das seinerzeit ausgesehen: Gerhart Hauptmann auf der Insel mit dem Einkaufskörbchen in der Schlange. Hauptmanns Haus besichtigten wir dann auch, es war zum Museum umgestaltet. Ob der Schriftsteller, der im Alter Goethe immer mehr ähnelte, ob der also jemals beim Abendbrot daran gedacht hatte, daß einmal Urlauber durch seine Zimmer schlendern würden?
    Künstler haben sich – schon immer – gern auf Hiddensee niedergelassen. Asta Nielsen besaß auf der Insel ein Domizil, und Gret Palucca sahen wir bald vor ihrem Haus auf der Wiese mit Ballettmädchen aus der Dresdner Schule. Vor dem Krieg war sie gern in Kampen auf Sylt gewesen. Ich sah ein Foto, wie sie dort am Strand aus lauter Lebensfreude tanzte. Nun hatte sie also, im geteilten Deutschland, auf dieser Ostseeinsel ihr Feriendomizil.
    Lutz, unser Zwickauer Bekannter, begrüßte uns, und Hans-Jürgen durfte tatsächlich in dem schmalen Zimmer auf seiner Luftmatratze kampieren. Natürlich »schwarz«, wie man damals solche illegalen Sachen nannte.
    Unvergeßlich ist mir der erste Eindruck von der Insel. Ich hatte das Gefühl, tiefer zu atmen. Diese Weite, diese Ruhe, dieser Riesenhimmel mit den Postkartenwolken, der Geruch des Meeres, die reetgedeckten weißen Häuser … so viel Weiß hatte ich noch nie gesehen. Ich kam aus der grauschwarzen Bergarbeiterstadt Zwickau – die Helligkeit blendete mich regelrecht.
    Autos gab es nicht, an einen Traktor glaube ich mich zu erinnern, und die Hebamme hatte wohl ein Moped. Einzige Lärmquelle waren die Möwen, dazu gesellte sich das beruhigende Plätschern der Wellen.
    Wir saßen am Strand, ich spürte zum ersten Mal den weichen Sand, sah aufs Meer hinaus, genoß diesen Blick zu einem unverstellten Horizont. Wir wohnten in Neuendorf, einer Ansiedlung ohne Straßen, alle Wege führten über Wiesen.
    Die nächsten Abende verbrachten wir in der »Stranddistel« oder im Hotel »Am Meer« des Herrn Franz Freese. Ja, und dann gingen wir tanzen. Die Palucca war zwar nicht mit ihren reizenden Ballett-Mädchen gekommen, aber J. war genauso hübsch und grazil. Warum ich sie »Patty« nannte, weiß ich nicht mehr, wohl weil Englisch damals sehr in Mode war.
    Sie hatte blonde kurze Haare, große Augen, einen schönen Mund und natürlich glatte braune Haut. Wir saßen abends im Strandkorb, nur das sanfte Plätschern des Wassers war zu hören. Und diese Sanftheit der Umgebung übertrug sich auf uns. Ich hatte das Gefühl, die Sterne kämen immer näher, Ja, es schien sogar, sie spiegelten sich in Pattys Augen … oder täuscht mich da meine Erinnerung? Immerhin ist das alles 40 Jahre her! Aber nein, da blitzte, funkelte wirklich etwas, Ehrenwort!
    Sie war die erste Leipzigerin, die ich in meinem Leben kennenlernte, und ich ahnte damals nicht, daß die Messestadt einmal meine Heimat werden würde.
    Wir eroberten die Insel, wanderten zum Dornbusch, nördlich von Kloster, besahen uns den Leuchtturm, die Steilküste. Irgendwann standen wir auch am Grab des 1946 verstorbenen Dichters und Nobelpreisträgers.
    Alle Ortsnamen, alle Begriffe, die mit der Insel zusammenhingen, hatten eine gewisse Romantik. Drei Tage vor meiner Abreise überfiel Patty und mich das Inselweh. Alles strahlte in einem besonderen Licht und ließ uns melancholisch werden. Es war so bittersüß, daß der Abschied nahte; und das Heimweh nach Hiddensee, nach dieser Stimmung, die wir erlebt hatten, war schon da, als wir noch gar nicht weg waren.
    Dann kam das große Winken von der Fähre, und der Inseltraumblieb zurück, entfernte sich mit jedem Meter, den das Schiff zurücklegte. Die Fähre war noch aus der guten alten Zeit, die Sitze ledergepolstert, und die hölzernen Haltestangen steckten in blankgeputzten Messingringen. Ich fuhr von Stralsund mit dem Zug allein nach Zwickau zurück.
    J. lernte später einen Westdeutschen kennen, der sie mehrmals in Leipzig besuchte. Eines Tages reiste sie mit einem falschen Paß wieder in Richtung Norden, um mit einer Fähre nicht nach Hiddensee, sondern nach Skandinavien und von dort in die Bundesrepublik zu gelangen. Als sie das Schiff betreten wollte, wurde sie verhaftet. Vermutlich war ein Schatten die ganze Zeit mitgereist, um die DDR-Bürgerin in flagranti zu überführen. Die sensible J. erzählte sich in der Einzelhaft Märchen, um nicht verrückt zu werden. Ihr künftiger
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