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Masken der Begierde

Masken der Begierde

Titel: Masken der Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivy Paul
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ihm zu gelangen, trat sie dem Pferd in die Flanken, kaum dass sie sich an die Bewegungen des galoppierenden Tieres gewöhnt hatte.
    Vor ihr, wie ein Ausrufezeichen aufragend, tauchte der Turm von Tredayn Castle auf. Immer näher kamen die Ruinen, und Violet hoffte, betete, flehte sämtliche existierenden und eingebildeten Gottheiten an, nicht zu spät zu kommen.
    Sie entdeckte Lucas’ Pferd frei auf der Wiese grasend. Von ihm selbst fehlte jede Spur. Irgendwo krähte ein Eichelhäher, im Unterholz rauschte der Wind und trug den Duft von Harz, feuchter Erde, überreifen Beeren und Wild heran.
    Violet band ihre Stute an einem Baum an und sah sich um. Lucas musste irgendwo in der Nähe sein. Ohne bestimmten Grund hob sie ihren Blick und erkannte eine Gestalt auf den Zinnen des Turmes.
    Sie erinnerte sich plötzlich an eine Vision Allegras: „Lucas ist bei Tredayn Castle. Rette ihn!“ Allegra hatte es vorausgesehen.
    Violet lief in den Turm. Die Treppen, windschief und verwaschen von Zeit und Witterung, erwiesen sich als rutschig und bemoost. Violets Herzschlag dröhnte in ihren Ohren und vibrierte in den Zehen. Ohne Sicherung, ohne Geländer erschien bereits der Weg auf die Turmspitze als gefährliches Abenteuer. Die Luft roch schimmlig und abgestanden, und von irgendwoher drang das beständige Tropfen von Wasser auf Stein. Die Außenseiten der Wände waren stellenweise von dunkelgrünem flauschigen Moos überzogen.
    Ein frischer Luftzug streifte Violets Wange, und sie wagte einen Blick nach oben, als ein Lichtstreifen die düsteren Treppen küsste. Erleichtert bemerkte sie, dass sie keine zehn Stufen von ihrem Ziel trennten.
    Sie biss sich auf die Lippen, trat hinaus und fand sich auf einer verwitterten Plattform wieder. Hier draußen war alles trocken und grau. Der Himmel ebenso wie die Steine, die Boden, Wände und Zinnen bildeten. Nach Süden hin war ein Teil der Zinnen eingebrochen und formten ein großes Loch. Groß genug, dass ein Pferd dort hindurchgepasst hätte. Genau in diesem Loch verharrte eine Gestalt. Der Wind, der auf dem Turm blies, wehte durch Lucas’ Haar, zerrte an seinem Hemd.
    Violet entdeckte seine Jacke, achtlos über eine Zinne gehängt. Lucas stand so nah am Abgrund, dass nur ein kleines Straucheln ausreichte, um ihn in die Tiefe stürzen zu lassen. Aber genau das beabsichtigte er.
    Noch zögerte er, ließ seinen Kopf hängen und schien hinabzustarren. Violets Herz fühlte sich wie herausgerissen an. Eine offene Wunde, die Lucas hinterlassen würde. Eine Narbe, die nie verschwinden würde. Tränen stiegen ihr in die Augen, zum wiederholten Male an diesem Tag, und diesmal schämte sie sich nicht. Ihr Innerstes war erfüllt von eisigem Schmerz.
    Lucas hatte sie noch nicht bemerkt. Er straffte sich, und Violet ahnte, dass er sich für den letzten Schritt wappnete. Ein Hauch Hoffnung blitzte in ihr auf. Wenn er noch nicht gesprungen war, konnte sie ihn vielleicht davon abhalten. Sie rannte zu ihm, doch er schien sie nicht zu bemerken.
    „Lucas“, sagte sie. Leise, aber laut genug, dass er sie hören musste. Er erstarrte, und Violet wagte es, sich ihm zu nähern. Nur wenige Schritte trennten sie noch voneinander. „Lucas, was tust du hier? Was hast du vor?“
    „Verschwinde, Violet, ich will nicht, dass du das mit ansiehst.“
    Violet bewegte sich einen weiteren Schritt in seine Richtung. Nun stand sie so nah vor ihm, dass sie nur die Arme ausstrecken musste, um ihn vom Abgrund zurückzuziehen. Kälte kroch ihre Fußsohlen empor, ringelte sich um ihre Waden, kletterte ihre Schenkel empor, bis sie sich steif und ungelenk anfühlten.
    „Was soll ich nicht sehen? Dass du aufgibst? Dass du mich und Allegra im Stich lässt?“, fragte sie bebend.
    „Verdammt, Violet, lass mich allein!“, fluchte Lucas. Seine Stimme klang rau und belegt.
    Es kostete Violet alle Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte, und noch mehr, um glaubwürdig zu klingen: „Tu, was du tun willst, aber tu es vor meinen Augen.“
    Er drehte sich um, so abrupt, dass Violet erschrak. Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht, und sie fühlte, wie die Tränenspuren auf ihrer Haut bissen und brannten.
    Lucas’ Miene zeigte sich schmerzerfüllt. Er war bei Weitem nicht der kühle und überlegte Mann, den er ihr vorspielte. Diese Erkenntnis erleichterte Violet. Lucas von seinem Vorhaben abzubringen, konnte gelingen, wenn sie ihre Karten richtig ausspielte. Er war ein Sturschädel und Dickkopf. Eine einfache Ansage würde nicht

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