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Marshall McLuhan

Marshall McLuhan

Titel: Marshall McLuhan
Autoren: Douglas Coupland
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wir schon wissen, was unsere ehemaligen Mitschüler inzwischen gemacht haben. Kinder verbringen mehr Zeit in Traumwelten und im Cyberspace als im wirklichen Leben. Und die Zeit rast davon.
    Und dann brach plötzlich auf eine seltsame Art die Wirtschaft zusammen, was einem vorkam wie eine schwer erklärbare Mischung aus Google, der Webseite der
New York Times
, Pop-Up-Werbung für russische Pornoseiten und der Ausstrahlung von Menschen, die abends um viertel nach sechs im Supermarkt in der Frischeabteilung stehen und zu Hause anrufen, um zu fragen, ob sie Spinat mitbringen sollen. All diese Informationen haben ganz offen, osmotisch oder vielleicht unabsichtlich unser kollektives Zeitgefühl angekratzt, das seit der Industriellen Revolution und der Entstehung des Bürgertums vollkommen intakt war. Dieses »Zeitweh« hat wahrscheinlich der Wirtschaft den Todesstoß versetzt, und weiß Gott, was als Nächstes dran glauben muss. Wo man auch hinsieht, man wird überall verlinkt – auf Verschwörungs-, Porno- oder Klatschseiten, Seiten mit medizinischen und genetischen Daten, Seiten für Baseballfans und Tupperwaresammler, Seiten, auf denen man freien Zugang zu Kinofilmen und Fernsehen hat, sich mit verflossenen Lieben verabreden und über alte Feinde lustig machen kann –, und die Art und Weise, wie im 20. Jahrhundert der Tag strukturiertwar und es um den Gemeinschaftssinn bestellt war, ist dabei verloren gegangen. Heutzutage teilen die Menschen zu jeder Tageszeit ihre tiefgründigsten Gedanken und entwickeln emotionsgeladene Beziehungen zu anderen rund um den Globus. Geografie spielt keine Rolle mehr. Unsere Online-Phantomwelt ist das neue
Wir
. Wir schaffen komplexe Informations- und Personennetzwerke, die jedoch wahnsinnig flüchtig und fragil sind. Die Zeit rast, bis sie irgendwann schrumpft. Jahre verstreichen in Minuten. Das Leben kommt einem vor wie bei diesem seltsamen Gefühl, wenn man über die Autobahn saust und plötzlich feststellt, dass man die letzte Viertelstunde gar nicht aufgepasst hat und trotzdem noch lebt und keinen Crash gebaut hat. Die Stimme im Kopf ist eine andere geworden. Früher war sie »du«. Jetzt ist sie die eines ewigen Nomaden, der durch eine zerfließende Landschaft irrt und von einem Tag auf den anderen lebt, auf alles und nichts gefasst.
    Und deshalb ist Marshall McLuhan so wichtig, heute mehr denn je, weil er das alles schon vor langer Zeit hat kommen sehen und weil er die Ursachen dafür erkannt hat. Seine Ansichten waren damals so neu und unorthodox und speisten sich aus so unterschiedlichen Quellen, dass der Mann als Scharlatan, Clown und Wichtigtuer verspottet wurde. Aber jetzt, wo sowohl die Zeit als auch unsere innere Stimme beschädigt sind, sollten wir uns ansehen, was McLuhan sonst noch so gesagt hat, vielleicht finden wir dann heraus, was als Nächstes kommt. Denn in einem Punkt sind wir uns einig: Die Zukunft hat noch nie so schnell so viele Menschen auf so extreme Art erreicht. Und wir brauchen eine Stimme, die uns führt. Marshall hat die Krankheit erkannt und nach Lösungen gesucht, wie man mit ihr umgeht.

    Um Ordnung in diesen aufgewirbelten Kosmos zu bringen,
    muss der Mensch dessen Zentrum finden.
    M. M.
    Science Meets Fiction
    1962 schrieb McLuhan:

    Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hin zu bewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn, wie wir das in einem naiven Zukunftsroman lesen können. Und so wie unsere Sinne sich nach außen begeben haben, so dringt der Große Bruder in uns ein. Folglich werden wir, wenn wir uns dieser Dynamik nicht bewusst sind, schlagartig in eine Phase panischen Schreckens hineingeraten, was genau zu unserer kleinen, von Stammestrommeln widerhallenden Welt, zu unserer völligen Interdependenz und aufgezwungenen Koexistenz passt.

    Mit einem Schlag nahm Marshall – vier Jahrzehnte im Voraus – das Internet vorweg, und nicht nur das. Der Mann war einundfünfzig, als er diese Sätze veröffentlichte, ein kanadischer Professor für Renaissancerhetorik, der immer wieder seine Abneigung und Verachtung gegenüber einem Großteil des elektronischen Zeitalters zum Ausdruck brachte und paradoxerweise gleichzeitig als sein größter Guru gilt.
    Gestützt auf seine rätselhaften Studien früher englischer Prosodie und Rhetorik sowie auf eine Vielzahl antiker wie moderner Quellen, mitunter von erstaunlicher Obskurität, warnte McLuhan uns davor, ohne einen Schlüssel zum Verständnis dieses neuen
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