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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten
Autoren: Carre
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gleich mit.
    Und Brue selbst war ein würdiger Sproß dieses noblen Geschlechts, wenn auch sein letzter. Tief im Herzen wußte er selber, daß Frères, so die in der Familie gebräuchliche Kurzform, eine Oase überholter Praktiken war. Ein sorgenfreier Lebensabend war ihm sicher, aber eine Zukunft hatte Frères nicht. Gut, es gab Brues Tochter Georgie von seiner ersten Frau Sue, aber Georgies letzte bekannte Adresse war ein Aschram bei San Francisco. Das Bankwesen rangierte in ihrer Lebensplanung nicht eben an erster Stelle.
    Dabei zählte Brue vom Äußeren her mitnichten zum alten Eisen. Er war gut gebaut und auf zurückhaltende Weise attraktiv, mit einer offenen, sommersprossigen Stirn und dem drahtigen, rotbraunen Haar so vieler Schotten, das er so weit gezähmt hatte, daß es sich immerhin scheiteln ließ. Er strahlte die Selbstsicherheit der Wohlhabenden aus, aber nichts von ihrer Arroganz. Seine Züge, sofern er sie nicht hinter der Maske professioneller Undurchdringlichkeit verbarg, waren einnehmend und trotz seiner Jahrzehnte im Bankgeschäft – oder vielleicht gerade deswegen – erfrischend unverknittert. Wenn Deutsche ihn typisch englisch nannten, stieß er ein herzliches Lachen aus und versprach, die Kränkung mit schottischer Mannhaftigkeit zu ertragen. Einer aussterbenden Art anzugehören erfüllte ihn insgeheim sogar mit einer gewissen Genugtuung: Tommy Brue, Salz der Erde, ein guter Mann in dunklen Zeiten, kein Überflieger, aber dafür mit beiden Füßen auf dem Boden, verheiratet mit einer fabelhaften Frau, als Tischnachbar heißbegehrt und als Golfpartner zumutbar. Soweit das Bild, das die Welt von ihm hatte; jedenfalls hoffte er das.
    * * *
    Noch ein letzter Blick auf die Schlußkurse, ein rascher Überschlag ihrer Auswirkungen auf Brue Frères – die übliche Freitagabendschwäche, nichts, worüber man ins Schwitzen geraten mußte –, dann fuhr Brue seinen Computer herunter und wandte sich den Aktenordnern zu, die Frau Ellenberger ihm zur besonderen Beachtung bereitgelegt hatte.
    Die ganze Woche jonglierte er sich durch die nahezu undurchschaubaren Komplexitäten der modernen Finanzwelt, in der man als Bankier fast noch größere Chancen hatte, den Mann zu kennen, der das Geld gedruckt hatte, als zu wissen, an wen man es denn nun verlieh. Die Prioritäten bei seinen Freitagsséancen dagegen waren mehr eine Frage der jeweiligen Stimmung als der Notwendigkeit. Wenn Brue sich als Menschenfreund fühlte, konnte er den Abend etwa damit verbringen, einem Kunden kostenlos dessen Wohltätigkeitsfonds umzuschichten; war er aufgekratzt, zog es ihn eher zu Gestüten, Wellnesshotels oder einer Kette von Spielkasinos. Und wenn es die Zeit im Jahr war, in der die Zahlen zurechtgebogen sein wollten (eine Fertigkeit, die ihm beileibe nicht in die Wiege gelegt worden war, sondern die er sich im Schweiße seines Angesichts hatte erarbeiten müssen), legte er Mahler auf, während er über den Prospekten von Maklern, Risikokapitalgesellschaften und konkurrierenden Rentenfonds brütete.
    Heute abend jedoch war ihm keine solche Entscheidungsfreiheit vergönnt. Ein geschätzter Kunde war ins Visier der Handelsüberwachung an der Hamburger Börse geraten, und obwohl Brue vom Vorsitzenden der Untersuchungskommission, Haug von Westerheim, versichert worden war, daß es zu keiner Vorladung kommen würde, wollte er sich doch vorsichtshalber mit der jüngsten Wendung der Dinge vertraut machen. Zuvor aber lehnte er sich erst einmal in seinem Sessel zurück und rief sich den erstaunlichen Moment ins Gedächtnis, als der alte Haug gegen sein eigenes ehernes Vertraulichkeitsgebot verstoßen hatte:
    In der Marmorpracht des Anglo-German Club strebt ein fürstliches Diner dem Höhepunkt zu. Die Crème de la crème der Hamburger Finanzwelt feiert einen der Ihrigen. Tommy Brue wird heute sechzig, auch wenn er es selber kaum glaubt, denn wie sagte sein Vater Edward Amadeus so gern? Tommy, mein Sohn, die Mathematik ist der einzige Teil unserer Profession, der nicht lügt. Die Stimmung ist ausgelassen, das Essen gut, der Wein noch besser, die Reichen sind glücklich, und Haug von Westerheim, ein Mittsiebziger mit einer ausgeprägten Liebe zu England, Reeder, Strippenzieher und anerkannt geistreich, bringt einen Toast auf Brue aus:
    »Tommy, alter Freund, wir sind zu dem Schluß gelangt, daß du zuviel Oscar Wilde gelesen haben mußt«, beginnt er auf englisch, indem er sich, Champagnerflöte in der Hand, vor dem Porträt der Queen
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