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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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Zimmer einer Tänzerin im dritten Stock an der Isabellastraße, nachmittags um fünf; das alles gibt es noch, aber nur so und so vage wie die verrosteten Konservendosen am Meeresgrund, menschliche Totengerippe, von denen die Fische das schmierige Fleisch genagt haben, und die Marmorsäulen des versunkenen Atlantis.
    ARBEITSPLAN
    Die Damen sprachen über ihre Dienstmädchen. Sagten alles, was man bei solcher Gelegenheit zu bereden pflegt; angefangen damit, dass sie »eigentlich alles haben«, bis zu dem Schluss, dass sie »im Grunde entlohnte Feinde« sind. Eine der Damen hat die Schilderung der sozialen Lage ihres Dienstmädchens damit gekrönt, dass sie mit erhobener Stimme verkündete: »… und zu all dem kann sie täglich zweimal mit dem Aufzug fahren.«
    NORDLICHT
    In der Nacht begann der Horizont zu glühen, mit purpurnen Flammen, als wäre der Jüngste Tag angebrochen, an dem sich die Sargdeckel heben, die Skelette in Reih und Glied stellen, am Himmel die Zeichen erstrahlen, die Hörner erschallen, und man die letzten Fragen zu beantworten hat. Ich stand an der Ecke des Margaretenringes und wartete auf das Hornsignal. »Es gibt Krieg!«, sagten die Nachtschwärmer.
    »Was werde ich antworten können?«, dachte ich. Und ich wartete auf den Tod und wartete auf die Freude. Die Freudenbotschaft lautete anders, als ich erwartet hatte, sie schmeckte anders, hatte einen anderen Sinn, als ich es mir vorstellen konnte. Vermutlich wird auch der Tod anders sein. Vergeblich habe ich mich vorbereitet, lieber Engel, umsonst drohst du mir mit dem Schwert; ich vermag nichts anderes zu antworten, als dass ich für das alles nichts kann. »Doch!«, erwidert der Engel streng. »Du hast nicht stark genug gebrannt! Verstehst du?«
    »Brennen sollte ich?«, so meine Frage; und plötzlich begreife ich, dass er recht hat.
    »Brennen, brennen!«, sagt der Engel in furchteinflößendem Ton. »Brennen, verbrennen, im Leben, in der Freude, im Glauben, in der Leidenschaft. Jetzt geh zur Hölle und brenne für immer!«
    Das wird er sagen, dachte ich. Doch da kam auch schon die Straßenbahn.
    ZUBEHÖR
    Ich besitze ein vorzügliches belgisches Jagdgewehr, gehe aber nie zur Jagd. Ich habe ein spanisches Wörterbuch, spreche aber kein Wort Spanisch; nenne einen Frack mein Eigen, habe ihn aber vor zehn Jahren zum letzten Mal getragen und kann mir gar keinen Anlass mehr vorstellen, zu dem ich ihn anziehen könnte. Und auch einen Globus besitze ich, obwohl ich nicht mehr auf Reisen gehe; ferner ein Tintenfass aus der Rákóczi-Zeit, das ich nie benutze; stets erbitte ich mir im Kaffeehaus Tinte und Feder. Mir gehört sogar eine komplette Pfeifensammlung mit gelb verfärbten Meerschaumpfeifen und dem obligatorischen Tabaksieb, aber ich habe niemals Pfeife geraucht. Sooft mir diese Requisiten in die Hände fallen, stelle ich zerstreut fest, dass ich mich perfekt für ein Leben ausgestattet habe, das zu leben ich keine Lust verspüre.
    HOLUNDER
    Auf der Straße schlendernd, in chemisch gereinigter, geruchloser Winterluft, steigt mir plötzlich Holunderduft in die Nase. Diese Empfindung ist lediglich Täuschung, Selbstbetrug; es gibt weit und breit keinen Holunder, kann auch gar keinen geben zu dieser Jahreszeit. Der Holunderstrauch, der mir seinen aufdringlichen Duft entgegenträgt, blüht nur in meiner Erinnerung. Auch die Erinnerung hat ein Klima, Flora und Fauna. Und dieses Klima ist keineswegs gemäßigt. Es steckt voller Extreme. Der wahre Herbst ist niemals der, den wir gerade erleben, sondern der andere, gold durchwobene, todesreife und wunderbare, an den wir uns eines Tages im Frühling erinnern.
    ERBSÜNDE
    Eine Erbsünde ist, wenn der Dichter faul, lasch und gleichgültig bleibt, obwohl er mit einem einzigen Federstrich, durch den Wechsel eines Attributs oder der Interpunktion einem Satz auf die Beine helfen, eine Wendung stärker, wahrer, menschlicher und ehrlicher machen könnte – und der Mensch das auch weiß. Doch ist er manchmal zu träge, zu müde dazu, oder auch nur zynisch. »Wird schon passen!«, denkt er und schreibt weiter. Das ist eine Sünde, die sich ein Schriftsteller nie verzeihen kann. Es ist die Erbsünde. In der Bibel wird das »die Trägheit, Gutes zu tun« genannt.
    MASKE
    Zum letzten Ball des Faschings gehen, maskiert, etwa verkleidet als Schriftsteller. Neben einem Koch, einem Marquis und Astrologen träte plötzlich der Schriftsteller in Erscheinung. »Ach«, würden die Tänzer enttäuscht feststellen, »sieht ja
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