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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Autoren: Catherine Banner
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funktionierte nicht. Das Buch blieb geschlossen. Ich überlegte für einen Moment hin und her, dann griff ich danach und schlug es auf.
    Da waren immer noch mehrere unbeschriebene Seiten. Also blätterte ich zum Anfang des Eintrags zurück und begann zu lesen.
     
    Das erste Sonnenlicht schimmerte durch die Vorhänge des Krankenhauszimmers und vertrieb die trostlose, graue Morgendämmerung. Der junge Mann öffnete leise die Vorhänge und sah zum Fenster hinaus. Er beobacht e te, wie das Licht die Eisenbahnschienen erreichte und sich über den Dächern der rechteckigen Häuser ausbre i tete. Es verwandelte das struppige U nk raut auf den Abstel l gleisen in heitere, violette Blumen, die reglos in der Stille des Morgens standen. Tränen liefen ihm übers G e sicht, doch er blieb am Fenster stehen, bis sie getrocknet w a ren. Er dachte an die Menschen, die gerade in den Hä u sern erwachten und an die im Zug, die dies für einen ganz normalen Morgen hielten – während für ihn selbst die Sonne so anders aufgegangen war.
    Die junge Frau hinter ihm rief seinen Namen. Er dre h te sich um und ging zu ihr und dem Kind in ihren Armen. Er legte die eine Hand auf den Kopf des Babys – es wachte nicht auf –, mit der anderen umfasste er die Fi n ger der Frau. Sein Blick verharrte für einen Moment auf ihr, obwohl sie es nicht sehen konnte. Ihre blonden L o cken fielen über das Gesicht des Kindes, während sie durch das Fenster und über die verlassenen Gleise hi n weg zu einem kaputten Zaun schaute, auf dem zwi t schernd und singend Vögel herumhüpften. Man konnte sie allerdings durch die Fensterscheibe nicht hören. Sonnenlicht breit e te sich im Zimmer aus und tauchte alles in Gold.
    Es verging eine lange Zeit, bevor die Stille unterbr o chen wurde, als eine Frau mittleren Alters ins Zimmer eilte. Sie betrachtete das schlafende Baby. Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie lachte. Auch die jüng e re Frau lachte und umarmte ihre Mutter. Die Großmutter des Babys löste etwas von ihrem Hals. Es handelte sich um eine goldene Kette, mit einem schweren Anhänger – ein juwelenbesetzter Vogel, der nun die Sonne einfing und Tupfen von Licht in dem kleinen, weißen Raum ve r sprühte. Das Baby öffnete plötzlich die Augen, doch das musste ein Zufall sein.
    »Das ist deine Halskette, Mama«, sagte die junge Frau.
    »Ich will sie ihr jetzt geben. Ich werde sie meiner E n kelin schenken.« Sie reichte sie dem Vater des Kindes. »Bewahr sie auf, bis deine Tochter älter ist. Ein Edelstein fehlt, aber das war schon immer so.«
    »Das ist nicht wichtig«, sagte die junge Frau. »Aber lass sie sie jetzt tragen, Mama. Nur für eine Minute.«
    Ihr Mann legte die Kette um den Hals des Babys und rückte sie zurecht. Das Schmuckstück reichte dem Kind fast bis zur Taille, so klein war es. Schweigend betracht e ten sie das Neugeborene.
    »Ich kann bereits jetzt erkennen, dass sie einmal sehr hübsch sein wird«, bemerkte die Großmutter.
    »Ich wünschte, ich könnte leben, um sie aufwachsen zu sehen«, sagte der Mann und küsste das Gesicht seiner Tochter. Eine Träne fiel aus seinem Auge auf ihre Wa n ge, und da begann auch sie zu weinen …
     
    Weit entfernt in einem hoch gelegenen Raum schlief in diesem Moment ein anderes Baby. Seine Mutter beugte sich vor, um die Samtvorhänge ihres Bettes aufzuziehen und ihren Sohn zu betrachten. Ihr Mann hielt ihn in den Armen, während der Priester einen Segen über das Kind sprach.
    »Beschütz diesen Prinzen und lass ihn zu einem kl u gen Mann heranwachsen«, sagte er gerade und machte dabei das Zeichen des Kreuzes.
    Doch der König hörte nicht zu. Sein Blick ruhte auf seiner Frau. Das frühmorgendliche Sonnenlicht verlieh ihrem Gesicht einen scharlachroten Schimmer, der sie zusammen mit ihrer Erschöpfung noch jünger aussehen ließ, als sie war. Der König versuchte, ihr Gesicht und das seines Kindes mit Blicken nachzuzeichnen, hörte jedoch auf, weil es ihm die Tränen in die Augen trieb. Er war noch nicht ganz achtzehn, sie sogar noch jünger, und jetzt – mit diesem Säugling auf den Armen – fühlte er sich wie ein unreifer Junge,.
    Nicht lange nachdem der Priester gegangen war, wachte das Baby auf. Behutsam legte der König seinen Sohn zurück in die Arme der Königin und kniete sich neben sie. Gemeinsam b et rachteten sie schweigend das Kind. Schon jetzt waren seine Augen auffällig – groß und dunkel und erfüllt von einer Stärke, die ungewöhnlich war für so ein
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