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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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es jetzt, über den Rand zu schauen. Was sie sah, ließ sie erneut schwindeln.
    Die Gezeitengondel fuhr auf einem breiten unterirdischen Fluss, doch das, auf das Catalina blickte, war nicht die Wasseroberfläche, sondern gewissermaßen die Unterseite der Wasseroberfläche. Die Gezeitengondel fuhr verkehrt herum auf dem Kanal. Was nichts anderes bedeutete, als dass sich Catalina und Ramon unter Wasser befanden, irgendwie. Die wirkliche Welt lag jetzt unter Catalinas Füßen.
    Es war, wie Ramon gesagt hatte. Unten war oben und oben war unten.
    »Wir sind zu lange unter Wasser gewesen«, erklärte Ramon. »Du hast meine Hand losgelassen und in der Dunkelheit die Orientierung verloren. Ich musste dich suchen. Der Strom hat uns währenddessen von den Finsterfaltern fortgetrieben. Als ich dich endlich gefunden habe, da hattest du bereits aufgehört zu atmen. Die Gezeitengondel hat uns gerettet, bevor wir ertrunken sind.«
    »Was ist sie?«
    »Sagte ich doch. Sie ist eine Gezeitengondel.«
    Catalina bemerkte kleine Öffnungen im Boden. Unwillkürlich musste sie an die kleinen Atemlöcher der Wale denke. Sie hatte bei Marquez einmal eine Fotografie der riesigen Säugetiere gesehen.
    Aus den Öffnungen strömte ein Flimmern, das leicht nach Fisch roch: die Luft, die sich in einer Glocke zu sammeln schien, die sich über die Gezeitengondel wölbte.
    »Sie leben in den Gezeiten«, erklärte Ramon. »Man sieht sie nur sehr selten. Mit der Flut kommen sie manchmal bis mitten in die Stadt hinein und mit der Ebbe verlassen sie die unterirdischen Flüsse und oberirdischen Kanäle wieder.«
    »Warum sind wir… verkehrt herum?«
    »Für die Gezeitengondel«, sagte Ramon und schüttelte sich, »ist es nicht verkehrt herum. Für die Gezeitengondel ist es richtig herum, die normale Sicht. Ja, die Dinge sind nun einmal so, wie sie sind.«
    Catalina musste an die Schatten denken und fragte sich zum ersten Mal, woher genau sie wohl kamen.
    Gab es eine Welt, die nur ihnen gehörte? Einen Ort, an dem es finster und dunkel war und Schatten durch die Straßen krochen? Es klang beängstigend und sie musste wieder an Madrid denken. Doch war es wirklich so beängstigend, wie es sich anhörte? Sie wusste es nicht. Ja, sie wusste nicht einmal, warum sie so absonderliche Gedanken hatte. Die Schatten waren böse. Böse ist, wer Böses tut. War es nicht so einfach?
    »Die Gezeitengondel wird uns zur Sagrada Família bringen«, sagte Ramon.
    »Du hast mir ihr gesprochen?«
    Er schüttelte erneut den Kopf und kleine Wasserspritzer stoben ihm aus dem Haar und den Federn. Jetzt glich er mehr denn je einem Vogel, der sein nasses Gefieder zu trocknen versucht. »Na ja, reden würde ich das nicht nennen.« Er sah sie an und grinste dabei. »Sie kann hören, was ich denke.«
    »Sie kann Gedanken lesen?«
    Er nickte.
    »Meine auch?«
    Er schüttelte den Kopf. »Du bist ein Menschenkind.«
    Catalina hasste es, wenn er ihr diese kurzen, knappen Antworten gab. »Du etwa nicht?«
    Erneutes Kopfschütteln. »Ich dachte, das hättest du bereits herausgefunden.«
    Sie zog ein Gesicht.
    »Die Federn sind mir aufgefallen«, gab sie zu.
    »Du müsstest blind sein, um sie zu übersehen.« Jetzt lächelte er freundlich.
    »Wer bist du? Was bist du?«
    »Ich bin ein Rabenkater.«
    Sie starrte ihn an.
    Die rabenschwarzen Augen blickten zurück. »Ich habe deiner Großmutter gedient.« Er sagte dies, als sei es eine Selbstverständlichkeit. »Jede Hexe besitzt einen. Ich dachte, das wüsstest du.« Er musste laut lachen. »Das ist eine Sache, die sogar in den meisten Märchen steht.« Er strich sich mit den Fingern über die Federn an seinem Kopf. »Jede Hexe arbeitet mit einem von uns zusammen. Mit einem Rabenkater oder einer Rabenkatze.«
    »Und weil du ein Rabenkater bist, kannst du die Gezeitengondel verstehen?«
    »Du hast es erfasst.«
    »Und du bist…«
    »Ich bin in Malfuria geboren worden und dorthin werde ich zurückkehren.«
    Catalina horche auf.
    Malfuria. Das war der Ort, von dem er erzählt hatte. Jener Ort, an dem sich die Hexen versammelt hatten, um eine neue Karte zu zeichnen, und wo sie mit ihrem Tun das Angesicht der alten Welt verändert hatten.
    »Was ist Malfuria?«
    Ramon setzte sich im Schneidersitz vor sie. »Malfuria ist der Ort, den wir Heimat nennen. Den auch du Heimat nennen könntest. Aber ihr Menschen seid da anders. Euch zieht es in die weite Welt hinaus.« Versonnen berührte er den Boden der Gezeitengondel und kraulte ihn.
    »Sie mag das«,
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