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Malevil

Malevil

Titel: Malevil
Autoren: R Merle
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der biblische Vorname. In leibhaftiger Größe steht er da, bekleidet mit einem
     karierten Hemd, das den muskulösen Hals frei läßt, und mit einer alten Reithose von der Armee (er war bei der Kavallerie).
     Und durch die niedrige Öffnung, wo sein Scheitel den steinernen Türsturz berührt, schaut er mich stirnrunzelnd und mit lustigen
     Augen an.
    Dieses Bild halte ich fest. Denn der kleine Junge auf der Matratze, das bin ich. Und der Onkel, der auf der Schwelle steht,
     das bin ich auch. Onkel Samuel war damals beinahe aufs Jahr so alt, wie ich jetzt bin, und alle Leute sind sich darüber einig,
     daß ich ihm sehr ähnlich bin. Und in dieser Szene, in der wenig Worte gewechselt werden, sehe ich den kleinen Jungen, der
     ich damals war, mit dem Mann konfrontiert, der ich inzwischen geworden bin.
    Wenn ich Onkel Samuels Porträt zeichne, zeichne ich zugleich mein eigenes. Er ist ziemlich groß, stämmig, aber in den Hüften
     schlank; das Gesicht, mit den schwarzen Brauen und den blauen Augen, ist kantig und von der Sonne gebräunt. In Malejac spinnen
     sich die Leute von morgens bis abends in ein leises, beruhigendes Wortgeplätscher ein. Der Onkel aber sagt nichts, wenn er
     nichts zu sagen hat. Und wenn er redet, spricht er kurz, ohne müßige Umschweife, sagt nur das Wesentliche. Ebenso sparsam
     sind seine Gebärden.
    Diese Bündigkeit gefällt mir an ihm. Denn von zu Hause, von Vater, Mutter, Schwestern, kenne ich nur das Gegenteil. Sie denken
     wirr und reden umständlich.
    Auch den Unternehmungsgeist bewundere ich am Onkel. Er hat seinen Besitz weitgehend gerodet. Den Rhunes-Arm, der ihn durchfließt,
     hat er in Kanäle geteilt, um Forellen zu züchten. Er hat etwa zwanzig Bienenstöcke aufgestellt. Er hat sich sogar unterderhand
     einen Geigerzähler gekauft, um in dem vulkanischen Gestein, das auf einem der Hänge seines Hügels ansteht, nach Uran zu schürfen.
     Und als überall »Ranches« und Reitsportunternehmen in Mode kamen, hat er seine Kühe verkauft und durch Pferde ersetzt.
    »Ich wußte genau, daß ich dich hier finde«, sagt der Onkel.
    Ich blicke ihn an und kriege den Schnabel nicht auf. Doch er |14| und ich, wir verstehen uns trotzdem. Und er antwortet auf meine Sprachlosigkeit.
    »Die Bretter«, sagt er. »Die Bretter, die du dir im vergangenen Sommer von meinem Haufen geholt hast. Du konntest sie nicht
     tragen. Du hast sie geschleift. Ich bin der Spur nachgegangen.«
    Seit einem Jahr also weiß er es schon! Und hat nie und mit keinem darüber gesprochen, nicht einmal mit mir.
    »Ich habe nachgesehen«, sagt er. »Der Mauerkranz auf dem Bergfried hält noch, da fällt nichts mehr herunter.«
    Ich bin von Dankbarkeit ergriffen. Der Onkel hat über meine Sicherheit gewacht, aber von fern, ohne es mir zu sagen, ohne
     mir lästig zu werden. Ich sehe ihn an, aber er weicht meinem Blick aus, will sich nicht rühren lassen. Er greift sich einen
     Hocker, prüft, wie stabil er ist, und setzt sich mit gespreizten Beinen darauf, wie auf ein Pferd. Alsdann galoppiert er los,
     geradewegs auf das Ziel zu.
    »Hör zu, Emmanuel, die haben niemand was erzählt und auch die Gendarmen nicht verständigt.«
    Ein kurzes Lächeln.
    »Die Mutter kennst du ja, ihre Angst, was die Leute sagen würden. Ich mache dir einen Vorschlag. Ich nehme dich bis zum Ende
     der Ferien zu mir. Wenn die Schule wieder anfängt, kein Problem: Du gehst nach La Roque in Pension.«
    Schweigen.
    »Und am Wochenende?« frage ich.
    Des Onkels Auge glänzt. So wie er spreche ich in Andeutungen. Wenn ich in Gedanken schon wieder zur Schule gehe, heißt das,
     daß ich einverstanden bin, bis zum Ende der Ferien bei ihm zu bleiben.
    »Kommst du zu mir, wenn du magst«, sagt er schnell. Ein kurzes Schweigen.
    »Ab und zu gehst du zu Tisch in die Grange Forte.« Um den Schein zu wahren, zärtliche Mutter. Ich verstehe, diese Lösung kommt
     allen zugute.
    »Schön«, sagt der Onkel und steht beschwingt auf. »Wenn du einverstanden bist, schnürst du dein Bündel und kommst mir in die
     Rhunes nach, dort lade ich Heu für mein Vieh.«
    Schon ist er weg, und schon schnüre ich mein Bündel.
    Nachdem ich den Tunnel im Dornengestrüpp und den Stacheldrahtzaun |15| passiert habe, fahre ich auf meinem Rad das ehemalige Bachbett hinunter, das den steilen Felsen von Malevil von dem runden
     Hügel des Onkels trennt. Sehr zufrieden, meinen Schlupfwinkel verlassen zu dürfen. Die Bäume, die überall zwischen dem verfallenen
     Gemäuer wachsen,
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