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Malenka

Malenka

Titel: Malenka
Autoren: Irina Korschunow
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bis jetzt in der gebotenen Demutshaltung dagestanden, etwas eingeknickt, den Kopf auch beim Sprechen halb gesenkt, so, wie schon Eltern, Großeltern und deren Großeltern angesichts der Obrigkeit, und auch in Pyritz hatte sie ihre Lektion gelernt. Sie stammte aus einem Tagelöhnerhaus in der Provinz Posen, vor Zeiten polnisches Gebiet, dann preußisch, kein Zuckerlecken, sich dort durchzubringen, aber immer noch besser als die Stadt, wohin sie durch ihre Heirat mit dem Fuhrknecht Heinrich Jarosch gekommen war. Heinrich Jarosch hatte mehrmals mit Fracht und Pferden in ihrem Dorf Station gemacht und Anna im Frühling des Jahres 1888 mitgenommen, ein Ereignis, das sie späterhin wie folgt kommentierte: »Hatte Erde unter Füßen und Stück Speck in Mund und was gekriegt? Pflastersteine und hartes Brot. Bloß weil Mann konnte schön mit Peitsche knallen.«
    Nicht ganz die Wahrheit, weder der Speck noch die Peitsche. Heinrich Jarosch besaß zwar breite Schultern, einen hohen Wuchs und besonders helle, draufgängerische Augen, aber außerdem hatte er ihr vorgegaukelt, Eigentümer nicht nur des einen, sichtbaren Fuhrwerks, sondern derer drei zu sein, und sie hauptsächlich dadurch von dem bereits vorhandenen Bräutigam weggelockt, einem Kleinbauern namens Stanislaw Jazcinsky, dessen armselige Wirtschaft mit den zwei Kühen, der Sau und etwas Federvieh vor solchen Verheißungen kaum bestehen konnte. Hochmut und Unglück. Sie hatte geglaubt, ins Paradies zu kommen, kam aber nach Pyritz. Kein Wagen, kein Pferd, gar nichts. Nur die Gewißheit, daß durch ihren Mann nie etwas hinzukommen würde, denn Heinrich Jarosch trank.
    Die Polin Anna hatte die Dinge in die Hand genommen, mit Zähigkeit und List. Sie hatte beim Bauern gerackert und als Waschfrau in den besseren Häusern der Stadt bald auch angefangen, abends nach der Arbeit ihre Wurst zu vertreiben, erst in kleinen Steinguttöpfen, später in Weckgläsern. »Ächte Posener Hausschlachtewurst« schrieb sie auf die Etiketten, auch dies nicht ganz der Wahrheit gemäß. Die Rezepte nämlich stammten von einer ehemals im Holsteinischen tätigen Gutsköchin, Marie Asmussen, die ihre Tage auf kümmerliche Art in Pyritz beschloß, in der alten Kaserne, wo auch die Familie Jarosch wohnte. Anna Jarosch war ihr hin und wieder beigesprungen, hatte ihr schließlich während der Sterbewochen den Ofen geheizt, die Suppe eingeflößt, sie gesäubert und gebettet und zum Dank das handgeschriebene Rezeptbuch der Asmussen bekommen nebst einem silbernen Medaillon, das nichts enthielt, auch nicht viel wert war. Das Rezeptbuch jedoch enthielt die Leberwurstformel.
    Anna Jarosch realisierte das Wurstrezept zunächst nur für die Familie, wobei sie aus Sparsamkeitsgründen das angegebene Nackenfleisch durch billigeres vom Kopf ersetzte, später auch noch die Blutwurstvariante ausprobierte. Durch puren Zufall kostete die Frau des Oberlehrers Rackow aus der Stettiner Straße, deren Wäsche Anna Jarosch wusch, davon, so kam der Handel in Gang. Zusätzliche Arbeit, aber auch zusätzliche Einkünfte, die sie hartnäckig verteidigte.
    Nein, kein Zuckerlecken. Sie hatte Kinder geboren, Kinder begraben, die drei Überlebenden gesättigt und gewärmt, ihr Geld vor dem Mann versteckt, sich dafür verprügeln lassen, dennoch auch ihn gesättigt, geschützt und bei sich geduldet in seinem Suff, ein Fegefeuer zwanzig Jahre lang, bis Gott ihre Gebete erhörte und sie vermittels eines Rappen, der den betrunkenen Heinrich Jarosch in die Rippen trat, von dieser Ehe erlöste. Was blieb, war eine Rente, winzig zwar, aber mehr als nichts. Endlich konnte sie ihre Ersparnisse unter dem lockeren Dielenbrett hervorholen und mit den drei Kindern in die Kleine Wollweberstraße ziehen, Stube, Kammer, Küche, ein ordentliches Haus, nicht mehr die alte Kaserne, wo die Armen und aus der Bahn Geratenen wohnten.
    Bei dem Altwarenhändler David Mossel kaufte sie ein Bett für jeden und ein weißes Küchenbüfett mit grünen Glasscheiben, auch das Sofa, auf dem sie Margot einmal ihre Geschichten erzählen sollte. Und dann, 1914, das Vertiko aus poliertem Nußbaum, ihr Traum, seitdem sie nach Pyritz gekommen war. Ausgerechnet ein Vertiko. Lächerlich, dachte Margot, als sie begann, die Großmuttergeschichten aus dem Mythos der Dämmerstunden herauszulösen, mit der Unerbittlichkeit ihrer Jugend und Intelligenz, und noch nichts wußte von Überlebensträumen, die sich ans Erreichbare klammern müssen. Was das Vertiko betraf, so
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