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Maigret verteidigt sich

Maigret verteidigt sich

Titel: Maigret verteidigt sich
Autoren: Georges Simenon
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nicht fest zugemacht.
    Eine Einzelheit jedenfalls stimmte: die Tasse Kaffee. Und als Maigret im ›Desiré‹ angekommen war, lag wirklich eine halb aufgeschlagene Zeitung auf einem Stuhl neben dem jungen Mädchen.
    »Die Zeit ist mir ziemlich kurz vorgekommen, aber ich könnte nicht beschwören, daß sie es wirklich gewesen ist, denn mein Onkel wirft mir oft vor, ich hätte kein Zeitgefühl. Ich zog gerade mein Portemonnaie aus der Tasche… Ich hatte ein leichtes Kostüm mit zwei Taschen an und deshalb keine Handtasche mitgenommen… Das ist auch einer meiner Fehler, meine Handtaschen immer irgendwo liegenzulassen. Darum wähle ich immer möglichst Kleider mit Taschen.«
    Raffiniert. Damit war die Geschichte von der angeblich gestohlenen Handtasche geklärt.
    »In diesem Augenblick ist ein ziemlich großer, breitschultriger Mann mit rundem Gesicht hereingekommen.«
    Danke für die Schilderung!
    »Ich täusche mich vielleicht, aber ich hatte den Eindruck, daß er mich eine Zeitlang durch das Fenster beobachtet hatte. Ich sehe noch vage einen Mann wie ihn auf dem Gehsteig auf und ab gehen.
    Ich habe zuerst geglaubt, daß er auf mich zukam, aber er hat sich an den Nebentisch gesetzt, oder sich vielmehr auf einen Stuhl fallen lassen und die Stirn gewischt. Ich weiß nicht, ob er schon getrunken hatte. Dieser Gedanke ist mir gekommen…« Achtung! Von hier an mußte ihre Aussage mit dem übereinstimmen, was der Wirt später sagen würde.
    »Sein Gesicht war mir bekannt, aber ich konnte mich nicht besinnen, wer er war. Dann ist mir eingefallen, daß ich sein Foto in den Zeitungen gesehen hatte.
    Er schien meine Gedanken erraten zu haben und hat zu mir gesagt:
    ›Sie täuschen sich nicht. Ich bin wirklich Kommissar Maigret.‹« Dies war ein Fehler. Maigret hätte so etwas nie gesagt. Aber das junge Mädchen mußte auf plausible Art erklären, daß sich sofort ein Gespräch angesponnen hatte.
    Der immer noch auf seinem Stuhl sitzende Desiré war jedoch ein lästiger Zeuge.
    In Wirklichkeit hatte er sich nicht beim Eintreten des Kommissars erhoben, ihm nur über seine Zeitung hinweg einen Blick zugeworfen. Warum hatte er sein Lokal noch nicht geschlossen? Vielleicht aus Gewohnheit? Oder aber um in Frieden seine Zeitung lesen zu können, statt sich neben seiner Frau schlafen zu legen?
    »Ich gehöre nicht zu jenen jungen Mädchen, die Filmstars und anderen Prominenten nachlaufen, um sie um ein Autogramm zu bitten. Mein Onkel empfängt jede Woche viele Prominente am Boulevard de Courcelles.
    Dennoch freute ich mich, einen Polizeibeamten aus der Nähe zu sehen, vor allem den, von dem man am meisten spricht. Ich hatte ihn mir dicker, vor allem fetter vorgestellt. Was mich zunächst am meisten überraschte, war seine heitere Miene, und ich habe mich sofort gefragt, ob er nicht schon ein paar Schnäpse getrunken hatte.«
    Man kam wieder darauf zurück! Und plötzlich fiel Maigret wieder der berühmte Abend bei den Pardons ein, der eine geradezu lächerliche Bedeutung für ihn bekam. Man beschuldigte ihn, getrunken zu haben! Auch jetzt hatte er getrunken. Zwei Cognac. Große! Der Kellner der kleinen Bar würde es bezeugen können. Und auf dem Schreibtisch stand Bier. Wie aus Trotz goß er sich ein Glas ein, ergriff wütend ein belegtes Brötchen, biß hinein, legte es aber sofort wieder hin.
    Er hatte keinen Hunger. Er kochte innerlich, tauchte immer tiefer in eine unwirkliche Welt ein, in der er die Hauptrolle spielte, ohne recht zu wissen, was es für eine Rolle war.
    In einem Alptraum ist man sich bewußt, daß alles unwirklich ist. Auch wenn man während des Schlafs glaubt, daß der Traum wirklich ist, setzt das Erwachen bald dem Wirrwarr ein Ende.
    Hier war die Wirklichkeit ein Wirrwarr. Er schlief nicht. Er träumte nicht. Vor ihm lag eine Aussage, die nicht irgendein anonymer Brief oder der Bericht eines Irren war, sondern ein hochoffizielles Dokument, das ihm der Polizeipräfekt persönlich übergeben hatte.
    Und der Polizeipräfekt glaubte daran. Würde Maigret nicht schließlich auch daran glauben? Er rief sich wieder ins Gedächtnis, was jener Szene in dem Bistro vorausgegangen war. Das Läuten des Telefons, dann die Stimme des jungen Mädchens, er selber, der im Dunkeln zuhörte, zögerte, wieder einzuhängen, und schließlich Madame Maigret, die die Nachttischlampe anknipste und fragte: »Was ist?«
    Er zuckte mit den Schultern, lauschte immer noch auf das, was ihm eine abgehackt sprechende Stimme in flehendem Ton
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