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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte
Autoren: Georges Simenon
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brauchte nicht lange in seinem Gedächtnis zu suchen.
    »Vier.«
    »Ist dir in der Zeitung vom Dienstag morgen nichts aufgefallen?«
    »Das Foto des jungen Mädchens.«
    »Es war noch ein anderes Foto darin, auf dem drei Kerle zu sehen waren, harte Burschen, die man die Mauerbrecher genannt hat. Um drei Uhr morgens hatten sie endlich gestanden. Sie waren schon sehr lange in diesem Büro. Dreißig Stunden!«
    Maigret setzte sich an seinen Platz und ordnete seine Pfeifen, wobei er die beste herauszusuchen schien.
    »Du hast es vorgezogen, nach vier Stunden klein beizugeben. Mir persönlich ist das egal. Wir sind hier genug, um uns ablösen zu können, und wir haben viel Zeit.«
    Er wählte auf der Ziffernscheibe die Telefonnummer der Brasserie Dauphine.
    »Hier Maigret. Würden Sie mir ein paar belegte Brote und Bier schicken? Für wie viele?«
    Es fiel ihm ein, daß Janvier auch noch nicht zu Mittag gegessen hatte.
    »Für zwei. Sofort, ja. Vier Bier.«
    Er zündete seine Pfeife an und ging ans Fenster, wo er einen Augenblick das Gewimmel der Wagen und Fußgänger auf dem Pont Saint-Michel beobachtete.
    Hinter ihm zündete sich Albert eine Zigarette an. Er bemühte sich, seine Hand dabei nicht zittern zu lassen, und machte das ernste Gesicht eines Menschen, der das Für und Wider abwägt.
    »Was wollen Sie wissen?« fragte er schließlich, noch immer zögernd.
    »Alles.«
    »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt.«
    »Nein.«
    Maigret drehte sich nicht um, um ihn anzusehen. Wenn man ihn so von hinten sah, konnte man meinen, er habe nichts weiter zu tun, als zu warten und aus dem Fenster zu blicken.
    Albert schwieg von neuem. Nach einer Weile kam der Kellner von der Brasserie mit einem Tablett, das er auf den Schreibtisch stellte.
    Maigret öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren.
    »Janvier!« rief er.
    Janvier erschien.
    »In zwanzig Minuten werde ich die Verbindung haben.«
    »Bediene dich, das ist für uns beide.«
    Zugleich machte er ihm ein Zeichen, im Nebenzimmer seine Brötchen zu verzehren und sein Bier zu trinken.
    Maigret setzte sich in seinen Sessel und begann zu essen. Die Rollen waren jetzt vertauscht. Vorhin hatte Albert in der Pickwick-Bar hinter der Theke seine Mahlzeit eingenommen.
    Der Kommissar schien ganz vergessen zu haben, daß der andere ihm gegenübersaß. Man hätte schwören können, daß er an nichts anderes dachte, als in aller Ruhe sein Brot zu kauen und hin und wieder einen Schluck Bier zu nehmen. Sein Blick glitt über die auf dem Schreibtisch verstreut liegenden Papiere.
    »Sie sind Ihrer Sache sehr sicher, wie?«
    Er nickte.
    »Sie denken wohl, ich krieche zu Kreuz?«
    Maigret zuckte die Schultern, als wollte er sagen, ihm sei das gleich.
    »Warum haben Sie den Pechvogel zurückbeordert?«
    Der Kommissar lächelte.
    Und in diesem Augenblick zerdrückte Albert wütend die Zigarette, die er in der Hand hielt, so daß er sich fast die Finger verbrannte, und fluchte:
    »Scheiße.«
    Er konnte vor innerer Unruhe nicht mehr sitzen, sprang auf, ging ans Fenster, preßte das Gesicht an die Scheibe und blickte ebenfalls auf das Gewimmel draußen.
    Als er sich wieder umdrehte, hatte er seinen Entschluß gefaßt. Seine Erregung war abgeklungen, und seine Muskeln waren entspannt. Ohne dazu aufgefordert zu sein, trank er einen Schluck Bier aus einem der beiden Gläser, die noch auf dem Tablett standen, wischte sich den Mund ab und setzte sich wieder. Dies war seine letzte herausfordernde Geste, um wenigstens das Gesicht zu wahren.
    »Wieso haben Sie es erraten?« fragte er.
    Ruhig antwortete Maigret:
    »Ich habe es nicht erraten. Ich habe es sofort gewußt.«

 
    NEUNTES KAPITEL
     
     
     
    Maigret zog an seiner Pfeife und blickte den anderen schweigend an. Man hätte glauben können, daß er wie ein Schauspieler eine Pause machte, um dem, was er dann sagen würde, mehr Gewicht zu geben. Oder er tat es nur aus Lust am Komödienspiel. Er sah dem Barbesitzer kaum ins Gesicht. Er dachte an Luise Laboine. Die ganze Zeit, die er stumm in der Bar in der Rue de l’Étoile gesessen hatte, während Janvier hinuntergegangen war, um zu telefonieren, hatte er versucht, sich vorzustellen, wie sie in ihrem kläglichen Abendkleid und dem Samtcape, das ihr nicht paßte, in das volle Lokal hereingekommen war.
    »Weißt du«, murmelte er schließlich, »deine Geschichte ist auf den ersten Blick vollkommen, fast zu vollkommen, und ich hätte sie geglaubt, wenn ich das junge Mädchen nicht gekannt
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