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Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet

Titel: Maigret und der verstorbene Monsieur Gallet
Autoren: Georges Simenon
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Begleiterin aufzuhalten, doch es war zu spät. Mit langen Schritten überquerte sie den Hof, hielt vor dem Tisch einen Augenblick inne, ergriff das Tuch und zog es vom Gesicht des Toten.
    Sie schrie nicht. Die beiden Männer hatten sich überrascht nach ihr umgedreht. Der Arzt begann hastig seine Gummihandschuhe überzustreifen.
    »Ist Mademoiselle Angèle noch nicht zurück?« rief er zum Eingang hinüber.
    Während er einen Handschuh wieder auszog, um eine neue Zigarette anzuzünden, stand Madame Gallet reglos wie eine Statue am Tisch. Maigret trat hinzu, bereit, sie zu stützen.
    Mit einem Ruck wandte sie ihm ihr von Haß entstelltes Gesicht zu.
    »Wie konnte das geschehen!« schrie sie ihn an. »Wer hat das getan?«
    »Kommen Sie, Madame! Er ist es, nicht wahr?«
    Mit irren Augen starrte sie auf die beiden Männer, den weißgekleideten Arzt, die Krankenschwester, die endlich in den Hof geschlendert kam.
    »Was werden diese Leute mit ihm machen?« stammelte sie heiser.
    Und da Maigret, peinlich berührt, nicht gleich antwortete, warf sie sich ungestüm über die Leiche ihres Mannes, blickte wütend, herausfordernd auf die Leute im Hof und schrie:
    »Ich will nicht! Ich will nicht!«
    Maigret mußte sie mit Gewalt wegführen und der Obhut der Putzfrau übergeben, die ihre Eimer stehenließ. Als er in den Hof zurückkehrte, hatte der Arzt das Skalpell in der Hand, die Schutzmaske vor dem Gesicht. Die Krankenschwester reichte ihm ein Fläschchen aus mattem Glas.
    Fast wäre der Kommissar über einen kleinen schwarzen Seidenhut gestolpert, der, mit einer malvenfarbenen Schleife und einer Schnalle aus falschen Brillanten geschmückt, vor ihm am Boden lag.
     
    An der Autopsie nahm der Kommissar nicht teil. Es begann zu dämmern, und der Arzt hatte erklärt:
    »Ich habe sieben Gäste zum Abendessen in Nevers …«
    Die beiden andern waren der Untersuchungsrichter und der Gerichtsschreiber. Der Richter schüttelte Maigret die Hand.
    »Wenden Sie sich an die Ortspolizei, die die Untersuchung eingeleitet hat«, sagte er kurz. »Ein äußerst verworrener Fall!«
    Das Tuch wurde entfernt. Die Leiche war nackt.
    Maigrets persönliche Begegnung mit dem Toten dauerte nur wenige Sekunden. Der Körper entsprach dem Bild, das er sich nach dem Foto von ihm gemacht hatte: hager, knochig, eine eingefallene Brust, die den unsportlichen Büromenschen verriet, eine Haut, so fahl, daß die Körperhaare im Vergleich fast schwarz wirkten, ausgenommen auf der Brust, wo sie rötlich schimmerten.
    Nur die eine Gesichtshälfte war noch intakt. Die linke Wange war von einer Kugel zerfetzt worden.
    Die Augen standen offen, und die mausgrauen Pupillen starrten Maigret nur um eine Spur lebloser an als auf dem Foto.
    »Er mußte Diät halten …« hatte Madame Gallet gesagt.
    Unterhalb der linken Brust klaffte eine kleine, sauber umrissene Wunde, die von einem Messerstich herrührte.
    Der Arzt trat hinter Maigret ungeduldig von einem Bein auf das andere.
    »Sind Sie der Mann, dem ich meinen Rapport schicken muß? An welche Adresse?«
    »›Hôtel de la Loire‹.«
    Der Untersuchungsrichter und sein Schreiber schauten woanders hin und schwiegen.
    Maigret suchte den Ausgang, irrte sich in der Tür, landete zwischen den Schulbänken eines Klassenzimmers.
    Hier war es angenehm kühl. Der Kommissar sah sich um, betrachtete die Farbdrucke an den Wänden, las die Bildtitel: »Erntezeit« und »Bauernhof im Winter« und »Markttag in der Stadt«.
    Auf einem Gestell standen, der Größe nach geordnet, alle gebräuchlichen Gewichts- und Raummaße aus Holz, Messing und Eisen.
    Der Kommissar wischte sich den Schweiß von der Stirn. Draußen im Flur stieß er mit dem Polizeiinspektor von Nevers zusammen.
    »Sie habe ich gesucht«, begrüßte ihn der Beamte. »Gut, daß Sie da sind! So kann ich meiner Frau nach Grenoble nachfahren. Stellen Sie sich vor, wir wollten eben in den Urlaub fahren, als ich gestern früh diesen Anruf bekam!«
    »Hat man etwas gefunden?«
    »Nichts! Rein gar nichts! Eine unwahrscheinliche Geschichte, wie Sie sehen werden. Wenn Sie Lust haben, können wir zusammen essen gehen. Dann werde ich Ihnen ein paar Einzelheiten berichten, sofern man hier überhaupt von Einzelheiten sprechen kann … Gestohlen wurde nichts! Kein Mensch hat etwas gesehen oder gehört! Und den Schlauberger möchte ich sehen, der mir sagen kann, warum der Mann umgebracht worden ist … Nur eines finde ich etwas sonderbar, aber wahrscheinlich wird es uns nicht viel
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