Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret und das Schattenspiel

Maigret und das Schattenspiel

Titel: Maigret und das Schattenspiel
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
…?«
    »Beeilen Sie sich, der Zug fährt gleich los …«
    Und der junge Mann mit der grauen Mütze ließ den schwersten Koffer auf den Bahnsteig poltern. Es war dunkel. Im Lichtschein der Lampen hasteten Reisende von der Bahnhofswirtschaft zurück. Ein Pfiff. Eine Frau diskutierte mit den Zollbeamten, die sie nicht weiterfahren ließen.
    »Morgen früh werden wir weitersehen …«
    Und Monsieur Martin trottete hinter dem jungen Mann her, während er sich mit seinem Gepäck abmühte. Er hatte sich niemals vorgestellt, daß ein Bahnsteig so lang sein konnte. Er kam ihr vor wie eine endlose Rennstrecke, menschenleer, von mysteriösen Türen gesäumt.
    Schließlich stieß der junge Mann die letzte Tür auf.
    »Gehen Sie hinein!«
    Es war düster … Nur eine Lampe mit grünem Schirm, die so niedrig über dem Tisch hing, daß sie nur einige Papiere beleuchtete. Dennoch bewegte sich etwas hinten im Raum.
    »Guten Tag, Monsieur Martin!« sagte eine freundliche Stimme.
    Und eine enorme Gestalt löste sich aus dem Schatten: Kommissar Maigret, der den Samtkragen seines schweren Überziehers hochgeschlagen hatte und die Hände in den Taschen hielt.
    »Es lohnt sich nicht, die Koffer abzustellen. Wir nehmen den Zug nach Paris zurück, der gleich auf Gleis 3 einfährt …«
    Diesmal gab es keinen Zweifel mehr: Martin weinte lautlos vor sich hin, während die so sorgfältig gepackten Koffer seine Hände lähmten.
     
    Der Inspektor, der zur Überwachung der Place des Vosges Nr. 61eingesetzt worden war, hatte Maigret einige Stunden zuvor angerufen:
    »Unser Mann ist dabei, sich aus dem Staub zu machen … Er hat ein Taxi genommen und sich zur Gare du Nord fahren lassen …«
    »Lassen Sie ihn fahren … Überwachen Sie weiterhin seine Frau …«
    Und Maigret hatte denselben Zug genommen wie Martin. Er hatte im Nachbarabteil gesessen, zusammen mit zwei Unteroffizieren, die sich während der ganzen Fahrt zweideutige Geschichten erzählt hatten.
    Von Zeit zu Zeit hatte der Kommissar sein Auge an das kleine Guckloch in der Zwischenwand gehalten, die die beiden Abteile trennte, und einen düster blickenden Martin gesehen.
    Jeumont … Die Ausweise, bitte … Das Büro des Sonderkommissars.
    Und nun fuhren sie beide in einem reservierten Abteil nach Paris zurück.
    Martin trug keine Handschellen. Seine Koffer lagen im Gepäcknetz über seinem Sitz, und einer von ihnen, der keine sichere Auflage hatte, drohte ihm auf den Kopf zu fallen.
    Bis Maubeuge hatte Maigret noch keine einzige Frage gestellt.
    Es war gespenstisch. Er saß zurückgelehnt in seiner Ecke, die Pfeife zwischen den Zähnen. Er hörte nicht auf zu rauchen, während er seinen Reisegefährten mit seinen kleinen, belustigten Augen ansah.
    Zehnmal, zwanzigmal hatte Martin den Mund aufgemacht, ohne sich entschließen zu können, etwas zu sagen. Und zehnmal oder zwanzigmal hatte der Kommissar nicht einmal Notiz davon genommen.
    Aber dann geschah es doch: Eine Stimme, die man unmöglich beschreiben kann und die selbst Madame Martin kaum wiedererkannt hätte.
    »Ich war es …«
    Und Maigret sagte noch immer nichts. Seine Augen schienen zu fragen:
    »Wirklich?«
    »Ich … Ich hatte gehofft, über die Grenze zu kommen …«
    Es gibt eine Art zu rauchen, die für denjenigen, der dabei zusieht, aufreizend ist: bei jedem Zug öffnen die Lippen sich genießerisch mit einem kaum hörbaren »poc«. Und der Rauch wird nicht nach vorn geblasen, sondern entweicht allmählich und bildet eine Wolke um das Gesicht.
    So rauchte Maigret, während sein Kopf im Rhythmus der Achsen von rechts nach links und von links nach rechts pendelte.
    Martin beugte sich vor, die schmerzenden Hände in den Handschuhen, die Augen fieberglänzend.
    »Glauben Sie, daß es lange dauern wird? Nicht, wenn ich gestehe, nicht wahr? Denn ich gestehe alles …«
    Was gab ihm die Kraft, nicht zu schluchzen? Alle seine Nerven mußten ihm furchtbare Qualen bereiten. Und seine Augen sahen Maigret immer wieder flehend an, als wollten sie sagen:
    »Helfen Sie mir doch! Sie sehen doch, daß ich am Ende meiner Kräfte bin …«
    Aber der Kommissar rührte sich nicht. Er war ebenso gelassen und hatte den gleichen neugierigen, aber leidenschaftslosen Blick, als stünde er im Zoo vor dem Käfig eines exotischen Tieres.
    »Couchet hat mich überrascht … Und da …«
    Maigret seufzte. Ein Seufzer, der nichts bedeuten sollte, oder der vielmehr auf hunderterlei Weise interpretiert werden konnte.
    Saint-Quentin! Schritte im Gang.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher