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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom
Autoren: Peter Watts
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hundert Meter in die Luft aufsteigen und suchte den Ozean ab. Dort draußen befand sich keinerlei Fahrzeug. (Ein U-Boot vielleicht?) Direkt unter ihr folgte eine weitere Mechfliege ihrer festgelegten Route in Richtung Süden, ohne sich um die rätselhaften Beobachtungen ihres Vorgängers zu kümmern.
    Und irgendwo dort draußen, unter den Wellen, versteckte sich jemand. Kein Flüchtling. Jedenfalls nicht von der üblichen Art. Jemand, der halb verhungert im Gefolge der Apokalypse an Land gekrochen war. Eine Frau mit Maschinen in der Brust.
    Oder vielleicht eine Maschine, deren Äußeres einer Frau glich.
    Sou-Hon Perreault wusste, was das für ein Gefühl war.

Totenbett
    Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, nicht auf die Zeit zu achten. In Lubins Beruf eignete man sich rasch solche Tricks an. Man lernte, sich nur auf den Augenblick zu konzentrieren und die Zukunft auszublenden. Er hatte das Ganze auch andersherum versucht – den Zeitpfeil umzukehren und die Vergangenheit auszulöschen –, aber das war nicht ganz so einfach gewesen.
    Es spielte keine Rolle. Nachdem er ein ganzes Jahr lang in blinder Nacht verbracht hatte, während die Erde unablässig unter ihm aufriss und der Pazifik unbarmherzig auf ihn herabdrückte wie eine Hydraulikpresse, weinte er vor Dankbarkeit, als er wieder trockenes Land unter sich spürte – ein Gefühl, an das er sich schon kaum noch erinnern konnte. Das war Gras . Und das waren Vögel . Und das dort, gütiger Gott, das war Sonnenschein . Er befand sich auf einem schäbigen, kleinen Felsbrocken, irgendwo im Pazifik, voller Flechten, vertrockneter Büsche und Scheißmöwen, und dennoch hatte er nie etwas Schöneres gesehen.
    Er konnte sich keinen besseren Ort zum Sterben vorstellen.
     
    Er wachte unter einem klaren, blauen Himmel auf, tausend Meter unter der Meeresoberfläche.
    Fünfzig Klicks von der Station Beebe entfernt, vielleicht fünfundfünfzig vom Epizentrum der Katastrophe. Zu weit, als dass das Licht der Explosion bis zu ihm hätte vordringen können. Er wusste nicht, was er in diesem Augenblick sah – Tscherenkow-Strahlung möglicherweise. Irgendeinen merkwürdigen Effekt, den die Druckwellen auf den Sehnerv ausübten. Die Vision eines Nachleuchtens, das die Tiefe in ein dunkles, durchdringendes Blau tauchte.
    Und während er dort hing wie ein in Gelatine eingeschlossenes Staubkörnchen, traf ihn von unten her mit einem Grollen eine kleine Stoßwelle.
    Ein uralter, vorzivilisierter Teil von Lubins Gehirn geriet in Panik. Dieses Gefühl wurde jedoch von einem deutlich jüngeren Modul unterdrückt – ein Modul, das fieberhaft nachzudenken begann: Druckwellen breiten sich rasch im Felsgestein aus. Lotrecht davon abgehende Nebenwellen steigen vom Meeresboden auf. Das war das Zittern, das er gerade gespürt hatte. Die beiden kurzen Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks.
    Und danach … die Hypotenuse, die langsamere Hauptstoßwelle, die sich ihren Weg durch ein träges Medium bahnt, das deutlich weniger Dichte besitzt als der Meeresboden.
    Langsamer, aber unendlich viel stärker.
    Pythagoras zufolge blieben ihm noch zwanzig Sekunden.
    Dem absoluten Druck gegenüber war er immun: Jeder Hohlraum im Innern seines Körpers, jede mit Gas gefüllte Tasche war schon vor langer Zeit von der Maschinerie in seinem Brustkorb entleert worden. Ein ganzes Jahr hatte er am Grunde des Ozeans verbracht und es kaum gespürt. Er bestand aus Fleisch und Knochen, einer zähen organischen Substanz, die sich ebenso wenig zusammenpressen ließ wie das Meerwasser selbst.
    Die Stoßwelle traf ihn. Das Meerwasser wurde zusammengepresst.
    Es sah aus, als würde man ins nackte Sonnenlicht blicken – das war der Druck, der seine Augen zerquetschte. Es klang wie der Tunguska-Einschlag – das war das Geräusch seiner platzenden Trommelfelle. Es war ein Gefühl, als würde man zwischen den Rocky Mountains zermalmt – sein Körper, der kurz zusammengedrückt wurde, während die Wellenfront vorbeizog, und sich dann wieder ausdehnte, wie ein Gummiball, der aus einer Schraubzwinge gerissen wurde.
    Er erinnerte sich kaum noch daran, was danach geschah. Aber das kalte, blaue Licht – es war verschwunden, nicht wahr? Bereits nach ein paar Sekunden. Als ihn die Stoßwelle erfasst hatte, war alles wieder dunkel gewesen.
    Und doch war es immer noch da. Überall um ihn herum war blaues Licht.
    Der Himmel , wurde ihm schließlich klar. Das ist der Himmel. Du bist an Land.
    Eine Möwe flog mit offenem Schnabel
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