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Mahlstrom

Titel: Mahlstrom
Autoren: Peter Watts
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Zerstörung. Im Norden war das Land vollkommen verwüstet. Industrielifter hingen über Lücken in der zerschmetterten Mauer und bauten sie wieder auf. Im Süden schlurften die Flüchtlinge immer noch durch die Zone und lebten in kleinen Unterständen und Zelten oder den zerbröckelnden Ruinen von Wohnhäusern, die aus einer Zeit stammten, als Meerblick noch den Wert einer Immobilie gesteigert hatte.
    Dazwischen blutete die Zone die Küste hinauf Stück für Stück aus. Zwanzig Meter hohe transportable Klippen bildeten ihre nördliche Begrenzung und hielten die Bewohner der Zone sicher im Zaum. Auf der anderen Seite waren auf einer Strecke von einigen Kilometern die Maschinen von N'AmPaz mit Reparaturen beschäftigt – sie füllten Vorräte auf, schlossen Löcher und besserten die beständigeren Barrieren im Osten aus. Weitere Klippen würden sich schließlich am nördlichen Rand des wiederhergestellten Gebiets herabsenken, und ihre Gegenstücke im Süden würden in den Himmel aufsteigen – oder im Bauch eines Industrielifters verschwinden, je nachdem, was zuerst da war – und einen großen Bocksprung nach Norden machen, der Flut der Säugetiere stets um einen Schritt voraus. Pazifizierungsmechfliegen schwebten am Himmel, um dafür zu sorgen, dass die Völkerwanderung in geordneten Bahnen verlief.
    Eigentlich waren sie gar nicht nötig. Heutzutage gab es wesentlich effektivere Methoden, um die Menschen ruhig zu halten.
    Am liebsten hätte sie den ganzen Tag lang zugeschaut, leidenschaftslos und aus weiter Ferne, doch ihre Pflichten ließen Pausen zwischen Arbeit und Schlaf, in denen sie wach war. Sie füllte sie, indem sie allein durch das Apartment schlenderte oder ihren Mann dabei beobachtete, wie er sie beobachtete. Immer häufiger fühlte sie sich von dem Aquarium angezogen, das in ihrem Wohnzimmer sanft leuchtete. Perreault hatte es stets als beruhigend empfunden – das zischende Sprudeln des Lüfters, das leuchtende Wechselspiel von Licht und Wasser, die friedliche Choreografie der Fische in seinem Innern. Sie konnte stundenlang zuschauen. Eine Seeanemone von zwanzig Zentimetern Durchmesser wiegte sich im hinteren Teil des Beckens in der Strömung. Symbiotische Algen färbten ihr Fleisch in einem Dutzend Grüntönen. Ein Pärchen Anemonenfische ruhte sicher zwischen den giftigen Tentakeln aus. Perreault beneidete sie um ihre Geborgenheit: ein Raubtier, das auf wundersame Weise seiner Beute diente.
    Am erstaunlichsten daran fand sie, dass das ganze verrückte Zusammenspiel zwischen Algen, Anemone und Fischen nicht durch genetische Manipulation entstanden war. Es hatte sich auf natürliche Weise entwickelt, eine Symbiose, die sich im Laufe von Millionen von Jahren schrittweise herausgebildet hatte. Nicht ein einziges Gen war dabei verändert worden.
    Es schien beinahe zu schön, um wahr zu sein.
     
    Manchmal riefen die Mechfliegen um Hilfe.
    Diese hier hatte in der Übergangszone etwas gesehen, das sie nicht verstand. Ihrer Ansicht nach hatte sich einer der Calvin-Cycler in der Mitte geteilt. Perreault klinkte sich in die Verbindung ein und fand sich in der Luft über einem vergänglichen Stillleben wieder. Glänzende neue Cycler standen entlang der Küste aufgereiht, Wunder der industriellen Photosynthese, bereit, aus der Atmosphäre selbst essbare Proteine zu flechten. Sie schienen allesamt intakt zu sein. Eine Reihe von Latrinen und ein Solarkrematorium waren erst vor kurzem installiert worden. Laternen und Decken und Stapel selbstaufbauender Zelte lagen in ordentlichen Reihen von Plastikgestellen. Sogar das aufgerissene Felsgestein war bis zu einem gewissen Grad repariert worden. Schaumstoffharz war in die Risse gesprüht, fortgeschwemmter Sand und Geröll war wiederaufgefüllt und halbherzig über den zerstörten Küstenstreifen verteilt worden.
    Die Sanierungsmannschaften waren abgerückt, die Flüchtlinge noch nicht eingetroffen. Und dennoch waren da frische Fußabdrücke im Sand, die in den Ozean führten.
    Und andere, die von dort kamen.
    Sie spielte die Aufnahme des Ereignisses ab, das den Alarm ausgelöst hatte. Die Welt verwandelte sich in die grelle, beruhigende Falschfarbdarstellung, die die Maschinen benutzten, um ihren von den Begrenzungen des Fleisches eingeschränkten Überwachern ihre Wahrnehmungen mitzuteilen. Für menschliche Augen war ein Calvin-Cycler ein glänzender Metallsarg, der in einer Großraumlimousine Platz gefunden hätte – für die Mechfliege war es ein Wirrwarr aus
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