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Magie der Schatten: Roman (German Edition)

Magie der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Magie der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Lisowsky
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Abendstunden.«
    Nairod zuckte mit den Schultern. »Ich geh jetzt nach Hause. Bis bald.«
    »Bis bald, Nairod.«
    Lenia nahm die Handelsstraße bergwärts. In ihrer dunklen Jacke blieb sie auf dem hellgrauen Stein der Wege Hunderte von Metern gut sichtbar. Erst als Lenia hinter den Toren von Wolkenfels verschwunden war, stand er auf.
    ***
    Zu Hause öffnete und schloss er die Tür so leise, wie er konnte. Er schlich sich an dem Geräusch des Spinnrads seiner Mutter vorbei und ging die Treppe nach oben in sein Zimmer. Das Buch nahm er sofort aus dem Rucksack und steckte es in eine Schublade, wo er es nicht mehr sehen konnte.
    So leicht würde Lenia nicht gewinnen.
    Er verbrachte den Nachmittag am Fenster und schaute dem Rauch zu, wie er sich aus den Schornsteinen der Häuser kräuselte, sah, wie die Menschen auf den Straßen des kleinen Gebirgsstädtchens vorbeigingen. Aber wenn er zu lange hinsah, dann formten die aufsteigenden Rauchschwaden vage die Gestalt der unkenntlichen Muster auf dem Buchdeckel. Und aus den Gesprächen der Menschen auf den Straßen hörte er nur immer die gleichen Wortfetzen heraus. Ei kyuu no. Eik yuun o. Eikyuuno. Ein Wort, das nach Geheimnis klang. Er ertappte sich dabei, wie er es selbst vor sich hin murmelte, als könnte er die Silben zwischen seinen Zähnen zermahlen und so auf die Essenz des Wortes stoßen. Sein Blick wanderte immer wieder zu der Schrankschublade, und er klammerte sich an der Fensterbank fest.
    Als es dunkelte, entzündete er eine Kerze und zog die Schublade so fest auf, dass sie ihm vor die Füße polterte. Das Buch lag noch immer darin, eingewickelt in die schützende Stoffschicht. Er hob es vorsichtig hoch. Vielleicht könnte es bei einer unvorsichtigen Bewegung zu Staub zerfallen. Die Kerze stellte er auf den Nachttisch, dann setzte er sich aufs Bett, in die Decke gehüllt, und wickelte das Buch aus. Durch das offene Fenster zog Bratenduft herein. Er hatte seit Stunden nichts gegessen. Egal.
    Er öffnete das Buch. Und das Buch nahm ihn in sich auf.
    ***
    Als er die letzte Seite umblätterte und nur auf Leere stieß, erwachte er. Seine Lungen sogen tief die Luft ein. Als hätte er Stunden nicht geatmet. Und tatsächlich waren Stunden vergangen, denn draußen stand ein bleicher Mond hoch am Himmel. Die kühle Nachtluft strich über seine schweißbedeckte Stirn. Auch auf den Armen glitzerte Schweiß. Seine Finger zitterten auf dem Papier, und in ihm pochte ein unruhiges Herz. Bei jeder Bewegung spürte er ein Ziehen in seinen Muskeln, aber für Muskelkater von der Übungsstunde war es noch zu früh. Seine Augen brannten, aber sie wollten sich nicht von der rissigen Oberfläche der Buchseite lösen, obwohl dort keine Buchstaben mehr waren.
    Er schob das Buch zur Seite, sein Körper fiel wie von selbst aufs Bett, und er starrte durch das Fenster in die Nacht hinaus.
    Wie hatte die Schrift überhaupt ausgesehen? Altertümlich, in geschwungenen, schweren Lettern? Oder doch neumodisch und in Blockbuchstaben? Hatte es Zeichnungen gegeben? Skizzen wie in den Lehrbüchern oder gar schmückende Malereien? Wie viele Seiten hatte er überhaupt gelesen? Hatte er eine Ewigkeit auf fünf Buchseiten gestarrt, oder war er wie irr durch fünfhundert gerast?
    Er konnte sich nicht mehr erinnern. Aber die Geschichte aus dem Buch … sie war noch da, in seinem Kopf. Und darin formte sich immer nur ein Wort: Eikyuuno .
    Der Mann, der das Buch geschrieben hatte, hatte erklärt, was es bedeutete, für ihn bedeutete. Denn es war nur der Name, den er einer Formel gegeben hatte, an der er arbeitete. Er, ein Mann, der immer zu klein gewesen war, arbeitete an dieser Formel, und er führte das Buch wie ein Tagebuch. Zugleich war es geschrieben wie einer der Ritterromane, die für teures Geld an die Adligen gingen. Zu Beginn wandte der Mann sich an einen Leser und stellte sich vor, ohne dabei allerdings seinen Namen zu nennen, und dann begann der Teil, der seine täglichen Fortschritte und Rückschritte beschrieb. Er reiste nach Norden und Süden, besuchte Freunde und Fremde und kehrte stets in sein winziges Arbeitskämmerlein zurück, das an irgendeinem Ort sein konnte. Am Ende der Welt oder nur um die Ecke und zwei Häuser weiter. Er hielt seine Forschungen fest, damit ein anderer sie fortführen konnte, falls er vor der Fertigstellung dahinscheiden würde. Eine seltene Krankheit machte seine Knochen brüchig wie Glas, und egal, wie viel er aß, er verlor unaufhaltsam an Gewicht. Vor Nairods
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