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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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katholischen und einen falschen.
    Und ich, Magdalena, war mit meiner ganzen Existenz in diesen Konflikt verwickelt. «Evangelische Schlampe!» ist in meinem Gedächtnis verbunden mit einem anderen Satz, den dieselbe Tante Regina Jahre später auf mich losließ: «Du bist unser Kreuz! Du bist die Strafe Gottes!» Das muss kurz nach dem Krieg gewesen sein, ich war damals in der Pubertät und tief getroffen. Sie wollte offenbar damit sagen, Gott hat meine Eltern für ihre Mischehe gestraft, indem er ihr erstes Kind mit einem Makel versah. Mein Lebtag werde ich diesen Satz nicht verwinden, und würde ich hundert Jahre alt, nicht einmal tausend würden dazu ausreichen. Was kann ein Mensch auf einen solchen Satz entgegnen? Nichts! Du kannst nur davor flüchten, du kannst versuchen, irgendwo Schutz zu finden.
    «Katarakt» nennen die Mediziner den Makel, ein Wort, das ich mag, obwohl ich medizinische Bezeichnungen hasse. Katarakt: das altgriechische Wort für Wasserfall. In der Antike nahm man an, ein Mensch mit stark getrübter Augenlinse sehe die Welt wie durch einen herabstürzenden Wasserfall. Eine andere Bezeichnung dafür ist «grauer Star». Wann und wie meine Eltern es damals bemerkten, weiß ich nicht genau. Beide werden traurig gewesen sein, besonders meine Mutter, denn sie hatte, bevor sie mit mir schwanger wurde, schon ein Kind verloren und war körperlich und seelisch angeschlagen. Sie stillte mich noch, als ich 1933, im Alter von sieben Monaten, zum ersten Mal in die Freiburger Augenklinik kam. Ein bekannter Arzt, der in Berlin studiert hatte und als Nazi galt, führte die Operation aus. Danach sah ich ein wenig besser, wird berichtet. Bei der zweiten Operation, mit sechzehn Monaten, sollte der sogenannte «Nachstar» entfernt werden. Ich habe mir immer vorgestellt, das ist so, wie wenn man einen Topf auskratzt und man noch einmal nachwischen muss, weil er noch nicht ganz sauber ist. Das Nachwischen misslang. «Das rechte Auge ist tot», sagte der Arzt zu meiner Mutter. Sie hat mir später diesen nüchternen, schockierenden Satz oft zitiert. Damals, nach der Diagnose des Scheiterns, haben meine Eltern davon abgesehen, das andere, linke Auge mit dem kleinen Sehrest nachoperieren zu lassen.
    Mit dem bissle Augenlicht konnte ich viel anstellen. Die meisten Spiele, die ich liebte, waren Sehspiele. Wir hatten im Wohnzimmer auf dem Fußboden bunt gemustertes Linoleum und Fensterläden, die man mit Hilfe einer Stange auf und zu schieben konnte. Die kleinste Portion Helligkeit, die reinkam, das war ein Fleck, den ich «Lichtei» nannte. Mit etwas Geschick konnte ich das Licht auf bestimmte Farbornamente am Boden lenken. Gegen zehn Uhr morgens kam die Sonne ins Wohnzimmer und blieb bis etwa zwölf Uhr da. Das war meine Zeit. Ich musste nur den Schemel vom Radio ans Fenster tragen, damit ich an die Schieber rankam, und dann habe ich sie ganz präzise so gestellt, dass ein ovaler Lichtkegel auf dem Gelb im Linoleum war.
    «Was tust du immer mit den Läden?», hat meine Mutter gefragt.
    «Ich mache farbige Eier!»
    Um diese zu sehen, musste ich wieder vom Schemel runter auf den Boden und nachschauen. Wenn es noch nicht ganz stimmte, stieg ich wieder hoch, den Schieber ein bissle nachjustieren, und dann wieder runter. Hoch und runter, bis endlich die gelben Eier fertig waren. Minutenlang konnte ich meinen Erfolg genießen, dann war die Sonne weitergewandert, ich musste wieder nach oben, sie einfangen. Ein schönes Spiel, das eine halbe Ewigkeit dauerte.
    Nachdem meine Eltern mich dabei beobachtet hatten, sind sie auf die Idee gekommen, mir bunte Mosaiksteinchen zu schenken und später einen Bilderbaukasten, der aus Würfeln bestand, die verschiedene Motive ergaben, wenn man sie richtig legte. Auf einer Seite war die Sahara mit einem schönen Kamel, ringsherum die gelbe Wüste mit hohen Dünen, darüber blauer Himmel. Auf der Rückseite der Würfel eine Schwarzwaldlandschaft mit Kuh und Wiese. Eines Tages bin ich darauf verfallen, die Kuh in die Wüste zu bringen. Oder ich hab den grünen Tannenbaum in den afrikanischen Himmel gehängt. Es gab nichts Schöneres als diese Verwirrspiele, grünes Gras und die dreieckigen Sanddünen zu vermischen, dem Kamel einen blühenden, grellgelben Löwenzahn vor die Füße zu legen.
    «Du machst es falsch, Magdalena», hieß es.
    «Nein, das ist genau richtig!»
    Ich war drei – und ganz sicher: Alles geht. Mit drei oder vier Jahren erlag ich auch einer anderen Sucht, die mich seither
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