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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord
Autoren: Krystyna Kuhn
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Gefühle, habe ich geantwortet. Ihre Angst ist die gleiche wie unsere, ihre Liebe gleicht meiner, ihre Hoffnungen fühlen sich nicht anders an als die aller Menschen auf dieser Erde.
    Deshalb kann ich nicht länger hierbleiben. Ich habe mich entschieden. Ich fahre zurück nach Paris. So bald wie möglich . Wenn meine Eltern nicht da sind. Dann gehe ich . Das soll ich nicht tun, höre ich dich sagen . Meinst du, das ist Liebe, wenn man schon immer weiß, was de r andere sagen will? Muss es wohl . Aber diesmal darf ich nicht auf dich hören. Ich kann nicht anders. Wenn du diesen Brief bekommst, bin ich vielleicht schon i n Paris und treffe dich in der Rue Daguerre . Julie n
    Der letzte Brief. Er war datiert vom 10. Juli, vor vier Tagen. Gina saß auf dem Fensterbrett und starrte hinaus auf die Straße. Ein kräftiges Abendrot überzog den Himmel und tauchte die Dächer von Paris in ein blutiges Licht. Vor zwei Tagen war das einfach nur eine Straße gewesen, die Leute da unten irgendwelche Leute. Und jetzt hatte sich alles geändert. Monsieur Saïd stand vor seinem Gemüsestand und starrte die Straße hinunter. Dann wandte er sich plötzlich um und verschwand in seinem Laden.
    Ich habe Angst, verrückt zu werden vor Sehnsucht.
    Noch vor wenigen Tagen hätte sie gesagt, dass dieser Julien einen an der Klatsche hatte. So ein Brief war nicht cool. Er war peinlich. Megapeinlich. Flopliste Nr. 1. Aber das war vor einigen Tagen gewesen. Da wusste sie noch nicht, dass es Liebesdramen nicht nur in Romanen gab, in Filmen, in der Oper. Sondern dass auch in der Wirklichkeit ein Menschenleben davon abhängen konnte. Aus der Ferne hörte sie das Telefon klingeln. Julien war auf dem Weg nach Paris. Oder bereits hier in der Stadt! Mit Sicherheit würde er zuerst in die Rue Daguerre kommen. Er glaubte ja, dass Najah hier auf ihn wartete.
    Der Anrufer gab nicht auf . Vielleicht war es Tom, dem es leidtat. Nein, er würde kein e Chance bekommen, es wiedergutzumachen. Ha! Nach dem Brie f wusste Gina nun, wie wahre Liebe sich anhörte. Auf keinen Fal l wie Wie war noch mal dein Name? . Das Telefon im Flur klingelte und klingelte . Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor zehn . Wo blieb Maman ? Gina erhob sich, rannte in den Flur und starrte den schwarze n altmodischen Apparat an. Das Läuten war beängstigend schrill , als könnte man bereits am Klingeln hören, ob es gute ode r schlechte Nachrichten waren . Zögernd nahm Gina den Hörer ab . »Hallo? « »Gina? « Die Stimme kam ihr bekannt vor, aber zu wem sie gehörte . . . keinen blassen Schimmer . »Wer spricht denn da? « »Hakima. « »Hakima? «
    »Oui!«
    »Woher hast du diese Nummer? « »Von Monsieur Saïd. « Der Gemüsehändler war offenbar tatsächlich nicht nur die Seel e der Rue Daguerre, sondern auch die Zeitung, Telefonbuch , Psychiater, Spitzel . »Was ist los? « Hakimas Stimme zitterte, als sie fragte: »Wo ist Noah? « »Noah?«, wunderte sich Gina . »Ja, er ist nicht nach Hause gekommen. « »Aber er müsste schon längst bei euch sein. « »Hat er gesagt, dass er nach Hause wollte? «
    »Ja. « Hatte er oder nicht? Gina hatte es vergessen. Sie erinnerte sic h nur noch an seinen verletzten Blick . »Aber er ist nicht da«, hörte sie Hakima. »Und der letzte Bus is t bereits weg. Ich dachte, er sei wieder einmal bei Monsieur Saïd , aber der hat ihn den ganzen Tag nicht gesehen. « »Er war mit mir zusammen. « »Meine Mutter macht sich fürchterliche Sorgen. Normalerweis e ruft er an, wenn er in der Stadt bleibt. Wo kann er nur sein? « »Keine Ahnung, Hakima. Es ist drei Stunden her, dass wir un s getrennt haben. « Hakimas Stimme zitterte. Weinte sie? »Ich gebe dir unsere Nummer. Bitte ruf an, wenn du etwas von ihm hörst. « »Aber ich glaube nicht, dass er sich bei mir meldet. « »Wer weiß. Er hat sich solche Sorgen um dich gemacht. « Ginas Herz klopfte aufgeregt . Hakima schwieg kurz und sagte dann so leise, dass Gina si e kaum verstand: »Salut. « »Hakima? « Keine Antwort . Das Gespräch war beendet .
    •

Zweiundzwanzig
    D ie Wohnung ihrer Großeltern lag auf der anderen Seite der Seine in der Rue Beethoven im 16. Arrondissement. Das riesige Appartement gehörte seit der Zeit vor dem Krieg der Familie ihrer Mutter. Als der Taxifahrer vor der Hausnummer zehn anhielt, schaute Gina aus dem Fenster zu dem vierstöckigen Gebäude hoch . Nichts hatte sich verändert. Als sei sie nie weg gewesen. Gin a liebte dieses Haus und die Erinnerungen, die sie damit
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