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Märchen

Märchen

Titel: Märchen
Autoren: Astrid Lindgren
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die eine Linde werden sollte.
    Und dann glaubte sie und sehnte sich. Sie glaubte so stark und sie sehnte sich so innig. Jeden Morgen, wenn sie erwachte, setzte sie sich auf in ihrem Winkel und lauschte mit ganzer Seele hinaus auf den Kartoffelacker, lauschte nach einer klingenden Linde und einer singenden Nachtigall. Doch sie hörte nur die Spittler in ihren Betten schnarchen und die Spatzen vor dem

    Fenster tschilpen.
    Es dauert seine Zeit, dachte Malin, aber mit Glauben und Sehnen wird es gelingen.
    Und sie freute sich darauf, wie schön und froh alles im Armenhaus werden würde. Eines Tages, als Jocke Kis wieder über die Stimmen weinte und seinen Kopf gegen die Wand schlug, da erzählte sie ihm von dem Wunderlieblichen, das kommen würde.
    »Wenn die Linde erst klingt und die Nachtigall singt, dann hörst du die Stimmen nicht mehr«, sagte Malin.
    »Ist das auch ganz gewiß?« fragte Jocke Kis.
    »Ja, mit Glauben und Sehnen wird es gelingen«, sagte Malin.
    Und Jocke Kis geriet ganz außer sich vor Freude. Sogleich begann auch er zu glauben und sich zu sehnen. Und auch er lauschte jeden Morgen hinaus auf den Kartoffelacker, lauschte nach einer klingenden Linde und einer singenden Nachtigall.
    Aber eines Tages erzählte er Ola auf Jola von dem Wunderlieblichen, das kommen würde. Da lachte Ola, daß es dröhnte, und sagte, wenn eine Linde auf dem Kartoffelacker wüchse, dann würde er sie niederhauen.
    »Denn was wir brauchen, das sind Kartoffeln«, sagte Ola. »Und außerdem wird es gar keine Linde.«
    Da kam Jocke Kis mit Tränen in den Augen zu Malin und sagte:
    »Ist es wahr, was Ola sagt, daß wir Kartoffeln brauchen, und außerdem wird es gar keine Linde?«
    »Mit Glauben und Sehnen wird es gelingen«, sagte Malin. »Und wenn die Linde erst klingt und die Nachtigall singt, braucht Ola keine Kartoffeln mehr.«
    Aber Jocke Kis sorgte sich dennoch und fragte:
    »Wann wird es denn eine Linde?«
    »Vielleicht schon morgen«, sagte Malin.
    In dieser Nacht lag sie lange wach und glaubte und sehnte sich. Noch nie zuvor hatte jemand so stark geglaubt und sich so innig gesehnt. Es war, als müßte die Erdkruste bersten und als müßten in allen Hainen und Wäldern Linden sprießen.
    Schließlich schlief sie ein und erwachte erst, als die Sonne hoch am Himmel stand. Sie wußte gleich, was geschehen war, denn da drängten sich alle Spittler vor dem Fenster und gafften vor Verwunderung. Wahr und wahrhaftig, draußen auf dem Kartoffelacker stand eine Linde, der schönste, zierlichste Baum, den man sich wünschen konnte. Zarte, grüne Blätter hatte die Linde, hübsche, feine Zweige hatte sie und einen glatten, ranken Stamm.
    Malin freute sich so sehr, daß sie glaubte, das Herz fliege ihr aus der Brust.
    Wahrhaftig, dort stand eine Linde!

    Und Jocke Kis geriet ganz außer sich vor Freude, er wußte sich kaum zu lassen. Und nicht einmal Ola lachte, sondern sagte:
    »Ein Wunder ist geschehen in Norka ... wahrhaftig, da steht eine Linde!«
    Ja, eine Linde stand dort, aber sie klang nicht, gar nicht. Ganz still stand sie dort, und ihre Blätter rührten sich nicht. Gott hatte in seiner Güte eine Linde aus einer Erbse sprießen lassen. Ach, weshalb nur hatte er vergessen, ihr eine Seele zu geben?
    Draußen auf dem Kartoffelacker, da standen sie nun versammelt, die Spittler. Sie warteten darauf, die Linde klingen und die Nachtigall singen zu hören, so wie Malin es ihnen versprochen hatte.
    Doch die Linde blieb stumm. Malin schüttelte das Bäumchen in ihrer Verzweiflung. Ohne klingende Linde gab es auch keine Nachtigall, das wußte sie wohl, denn so ist es nun einmal mit den Nachtigallen. Doch die Linde blieb stumm.
    Den ganzen Tag saß Jocke Kis auf der Vortreppe, er lauschte und wartete, aber am Abend kam er mit Tränen in den Augen zu Malin und sagte:
    »Du hast versprochen, daß sie klingen wird. Du hast gesagt, daß eine Nachtigall singen wird.«
    Und Ola auf Jola hielt die Linde nicht länger für ein Wunderwerk.
    »Was sollen wir denn mit einer Linde, die nicht klingt?« fragte er. »Morgen haue ich sie nieder. Denn was wir brauchen, das sind Kartoffeln.«
    Da weinte Malin, denn nun wußte sie nicht mehr, wie es je etwas Schönes und Frohes im Spittel geben könne.
    Die Spittler gingen zu Bett, sie warteten nicht mehr auf die Nachtigall, sie warteten nur auf die Wanzen. Und die Wanzen saßen in ihren Ritzen und Spalten und warteten auf sie.
    Dann senkte sich die Frühlingsnacht still über Norka. Doch in ihrem Winkel
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