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Märchen

Märchen

Titel: Märchen
Autoren: Astrid Lindgren
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mäuschenstill da und ließ sich kratzen.
    Ich kann mich erinnern, daß er einmal in den Trog gefallen war, aus dem die Sau fraß. Wie es zuging, daß er dort landete, weiß ich nicht mehr, aber ich werde nie den Anblick vergessen, wie er da im Schweinetrog herumschwamm, so ruhig, so selbstsicher, so glücklich darüber, daß er schwimmen konnte.
    Mein Bruder fischte ihn mit einem Stock heraus und stellte ihn zum Trocknen ins Stroh. Er schüttelte sich, daß die Kartoffelschalen nur so um ihn herumspritzten, und hinterher lachte er leise vor

    sich hin und starrte uns aus seinen roten Augen an.
    Manchmal konnte er tagelang maulen, ohne daß man wußte, warum. Dann tat er so, als höre er nicht, wenn man ihn rief, stand einfach in einer Ecke und kaute Stroh und benahm sich überhaupt komisch. Wir wurden dann immer sehr böse auf ihn und beschlossen, ihm kein Futter mehr zu bringen.
    »Hast du das gehört, du Dickkopf?« sagte mein Bruder einmal zu ihm, als es wieder soweit war. »Du kriegst keinen einzigen Kerzenstummel mehr, pilutta, pilutta!« (Pilutta sagte man zu jener Zeit, das bedeutete ungefähr dasselbe wie ätsch!)

    Aber stellt euch vor - da begann der kleine Drache zu weinen.
    Helle Tränen kullerten aus seinen roten Augen, und er tat uns leid.
    »Nicht weinen«, sagte ich schnell. »Wir haben es nicht so gemeint
    - du kriegst so viele Tannenbaumkerzen, wie du nur essen kannst.«
    Da hörte der kleine Drache auf zu weinen, lachte vor sich hin und wedelte mit dem Schwanz.
    Jedes Jahr am zweiten Oktober denke ich an den Drachen meiner Kindheit. Denn an einem zweiten Oktober verschwand er. Die Sonne ging an jenem Tag vor vielen Jahren strahlend unter, der Himmel leuchtete in den wundervollsten Farben, und ein leichter Nebel lag über den Wiesen. Es war einer von jenen Abenden, wo

    man sich nach etwas sehnt, und man weiß nicht, wonach. Der kleine Drache, die Muttersau und ihre Ferkel waren auf die Wiese hinausgelassen worden, damit sie ein bißchen Bewegung bekamen.
    Mein Bruder und ich waren auch da, um zuzusehen.
    Wir froren in der Abendluft, die kühl vom Nebel war. Wir hüpften auf und ab, um uns warm zu halten, und ich dachte: Jetzt geh ich bald ins Haus und leg mich in mein warmes Bett, und bevor ich einschlafe, lese ich noch ein Märchen. Gerade da kam der kleine Drache auf mich zu. Er legte mir die kalte Tatze auf die Backe, und seine roten Augen waren voller Tränen.

    Und dann - nein, war das seltsam - flog er einfach fort. Wir hatten nicht gewußt, daß er fliegen konnte. Aber er hob sich geradewegs in die Lüfte und flog mitten hinein in den Sonnen-untergang. Schließlich sahen wir ihn nur noch als einen kleinen schwarzen Punkt in der feuerroten Sonne. Und wir hörten ihn singen. Er sang mit einer ganz reinen, hellen Stimme, während er flog. Ich glaube, er war glücklich.
    An diesem Abend habe ich kein Märchen gelesen. Ich lag unter der Decke und weinte um unseren grünen Drachen mit den roten Augen.
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