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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Autoren: Muriel Spark
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sich leicht über den Rand ihrer Uniformmütze. Joanna konnte sich kaum einen schöneren Mann als diesen zweiten Hilfsgeistlichen vorstellen. Er war gerade ordiniert und sollte bald zur Air Force gehen. Es war Frühling, eine Zeit voller Vorbereitungen und Vermutungen, denn die zweite Front gegen den Feind sollte errichtet werden – einige meinten in Nordafrika, andere sagten in Skandinavien, an der Ostsee, in Frankreich. Inzwischen lauschte Joanna aufmerksam dem jungen Mann auf der Kanzel, sie lauschte ihm hingerissen. Er war groß und dunkel, seine Augen lagen tief unter den geraden schwarzen Brauen, er sah aus wie gemeißelt. Sein breiter Mund schien Joanna Großmut und Humor zu versprechen, jene Art von Großmut und Humor, die den Bischof kennzeichneten, der in ihm steckte. Er war athletisch gebaut. Er hatte ebenso deutlich zu erkennen gegeben, daß er Joanna wollte, wie der andere Hilfsgeistliche dies zu tun unterlassen hatte. Joanna saß in ihrem Kirchenstuhl, wie es sich für die älteste Tochter des Pfarrers gehörte, und es hatte nicht den Anschein, als lausche sie diesem anziehenden Burschen da oben besonders aufmerksam. Sie wandte ihm nicht das Gesicht zu, wie es das hübsche Mädchen von der Marine tat. Die rechte Hand und das rechte Auge, sagte er gerade, bedeute das, was uns besonders teuer sei. Die Schrift wolle damit ausdrücken, so sagte er, daß, wenn irgend etwas, das uns besonders teuer sei, sich als Beleidigung erwiese – «Wie Sie wissen», sagte er, «ist das griechische Wort hier ‹Skandalon›, das in der Schrift häufig in der Nebenbedeutung von Skandal, Beleidigung, Stein des Anstoßes auftritt – so wenn Paulus sagt …» Die Landleute, die in der Gemeinde überwogen, starrten mit runden Augen vor sich hin. Joanna beschloß, ihr rechtes Auge auszureißen, die rechte Hand abzuhauen, diese drohende Beleidigung ihrer ersten Liebe, diesen Stein des Anstoßes, diesen anbetungswürdigen Mann auf der Kanzel.
    «Denn es ist besser, daß eins Deiner Glieder verderbe, denn daß Dein ganzer Leib in die Hölle geworfen werde», dröhnte die Stimme des Predigers. «Die Hölle ist natürlich eine negative Vorstellung», sagte er. «Nehmen wir es positiver. Ins Positive gewendet würde der Text so lauten: ‹Es ist besser, verstümmelt das himmlische Reich zu betreten, als überhaupt nicht.›» Er hoffte, diese Predigt dereinst in einer Ausgabe ‹Gesammelte Predigten› zu veröffentlichen, denn auch er war noch in mancher Hinsicht unerfahren, wenn er auch später – als Air Force-Geistlicher – etwas mehr von der Wirklichkeit kennenlernte.
    Joanna jedenfalls hatte beschlossen, das himmlische Reich verstümmelt zu betreten, aber sie sah keineswegs verstümmelt aus. Sie fand in London eine Stellung und zog in den May of Teck Club ein. In ihrer Freizeit nahm sie Stunden in Vortragskunst. Dann, gegen Ende des Krieges, begann sie dieses Fach zu studieren und machte es zu ihrer Hauptbeschäftigung. Das Gefühl für Dichtung ersetzte das Gefühl für den Hilfsgeistlichen, und bis zu ihrem Diplom nahm sie Schüler an für sechs Shilling die Stunde.
     
    Mein Reh sie erschossen die rauhen Reiter
    Nun stirbt mir das Kitzchen und sie ziehen weiter.
     
    Niemand im May of Teck Club kannte ihre Geschichte genau, aber man nahm allgemein an, daß es sich bei ihr um heroische Gefühle handelte und man verglich sie mit Ingrid Bergman. Sie nahm niemals Teil an den Erörterungen zwischen den Mitgliedern und dem Personal des Clubs über die Frage, ob das Essen nicht vielleicht doch zu viele Kalorien enthielte, die dick machten, selbst wenn man die durch die Rationierung gegebenen Umstände berücksichtigte.

 
     
     
     
     
     
    3
     
     
    Liebe und Geld waren die wichtigsten Themen in allen Schlafzimmern und Schlafsälen. Die Liebe kam an erster Stelle, das Geld war nur eines ihrer Hilfsmittel, dessen man sich bediente, um immer gut auszusehen und sich Kleiderabschnitte zum offiziellen Schwarzmarktpreis – ein Pfund für acht Abschnitte – kaufen zu können.
    Das Haus war ein geräumiger viktorianischer Bau und in seinem Innern war sehr wenig verändert worden seit der Zeit, als es ein Privathaus war. Es ähnelte in seiner Anlage den meisten Damenheimen, die wegen ihrer mäßigen Preise und ihres guten Tons bekannt und die mit der weiblichen Emanzipation in Blüte gekommen waren. Niemand im May of Teck Club sprach je von ihm als ‹Heim› – allenfalls in Augenblicken schlechter Verfassung, wie sie die
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