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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Autoren: Muriel Spark
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sehen. Im allgemeinen waren sie von dem jeweiligen Schub wohlgelitten. Sie mußten Beleidigungen einstecken, sobald sie sich in irgend etwas einmischten, und vertrauliche Bekenntnisse anhören, wenn sie sich abseits hielten. Diese Bekenntnisse gaben selten die volle Wahrheit wieder, insbesondere dann nicht, wenn sie von den jungen Damen aus dem obersten Stock abgelegt wurden.
    Die drei alten Jungfern waren seit eh und je als Collie (Miss Coleman), Greggie (Miss Macgregor) und Jarvie (Miss Jarman) bekannt und wurden auch so angeredet. Es war Greggie, die zu Anne vor dem Anschlagbrett gesagt hatte: «Es ist nicht erlaubt, Zigarettenenden auf den Fußboden zu werfen.»
    «Darf man denn nicht einmal auf den Boden spuc ken?»
    «Ganz gewiß nicht.»
    «Oh, ich dachte.»
    Greggie gab einen nachsichtigen Seufzer von sich und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge jüngerer Mitglieder. Sie ging auf die offene Tür zu und setzte sich in die große Vorhalle, um in den Sommerabend hinauszublicken, wie ein Ladenbesitzer, der nach Kundschaft Ausschau hält.
    Greggie benahm sich immer so, als gehörte ihr der Club.
    Der Gong mußte sehr bald ertönen. Anne beförderte ihren Zigarettenstummel mit einem Fußtritt in einen dunklen Winkel.
    «Hier kommt dein Freund, Anne», rief Greggie über die Schulter.
    «Einmal rechtzeitig», sagte Anne mit der gleichen gespielten Verachtung, wie vorhin, als sie über ihren Bruder Geoffrey sprach: «Geoffrey wäre der letzte, den ich um Rat fragen würde.» Mit lässigem Schwung der Hüfte bewegte sie sich auf die Tür zu.
    Ein vierschrötiger junger Mann mit frischen Farben, in der Uniform eines englischen Hauptmanns, trat lächelnd ein. Anne stand da und betrachtete ihn, als sei er der letzte Mensch auf der Welt, den sie um Rat fragen würde.
    «Guten Abend», begrüßte er Greggie, so wie eben ein wohlerzogener Mann eine Frau in Greggies Alter begrüßt, die gerade in der Eingangshalle steht. Anne begrüßte er mit einem undeutlichen Nasallaut des Erkennens, der – wenn er ihn deutlicher artikuliert hätte – «Hallo» bedeutet haben könnte. Sie grüßte überhaupt nicht. Sie waren so gut wie verlobt und wollten heiraten.
    «Hast du Lust reinzukommen und dir die Tapete im Salon anzusehen?» sagte Anne schließlich.
    «Nein, laß uns abhauen.»
    Anne holte ihren Mantel vom Geländer, über das sie ihn geworfen hatte.
    «Schöner Abend, nicht wahr?» meinte er zu Greggie.
    Anne kam, den Mantel um die Schultern gelegt, zurück. «Wiedersehen, Greggie», sagte sie.
    «Wiedersehen», sagte der Soldat. Anne nahm seinen Arm.
    «Amüsiert euch gut», sagte Greggie.
    Der Gong zum Dinner ertönte. Ein Schurren von Füßen kam vom Anschlagbrett her, ein Getrappel aus den oberen Stockwerken.
     
     
    An einem sommerlichen Abend der vorangegangenen Woche war der gesamte Club – etwa vierzig Frauen – und einige junge Männer, die an dem Abend gerade zu Besuch dagewesen sein mochten, wie ein Trupp eiliger Wanderer in die kühle Nachtluft des Parks aufgebrochen. Sie hatten sein weites Gelände geradewegs in Richtung auf den Buckingham-Palast durchquert, um dort zusammen mit dem übrigen London den Sieg über Deutschland zu feiern. Sie hielten sich eng zu zweit und zu dritt beieinander, aus Furcht, niedergetrampelt zu werden. Wenn sie getrennt wurden, klammerten sie sich einfach an die nächstbeste Person oder diese sich an sie. Die Woge eines Meeres ergriff sie, sie wogten voran und sangen, bis in Abständen von einer halben Stunde immer wieder Licht über den winzigen, weit entfernten Balkon des Palastes flutete und vier kleine aufrechte Däumlinge darauf erschienen: der König, die Königin und die beiden Prinzessinnen. Die königliche Familie hob den rechten Arm und ihre Hände flatterten wie in einer leichten Brise – drei Kerzen in Uniform und eine in den bekannten pelzbesetzten Faltenwurf gehüllt, das Zivil, das die Königin auch in Kriegszeiten trug. Durch die Parks und entlang der Mall brandete das Tosen der Menge, den Lauten lebender Wesen gänzlich unähnlich, sondern mehr wie ein Katarakt oder eine Erdkatastrophe. Nur die Männer von der St. Johns-Ambulanz, die wachsam neben ihren Sanitätswagen standen, hatten ihre Identität bewahrt. Die königliche Familie winkte, wandte sich zum Gehen, zögerte, winkte noch einmal und verschwand schließlich. Viele fremde Arme schlangen sich um fremde Körper. Viele Beziehungen, darunter auch dauerhafte, knüpften sich in dieser Nacht, und zahlreiche
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