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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti
Autoren: G Arx
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das kontrolliere ich hier. Wir bemerken eine massive Häufung von TuberkuloseFällen. Das hat mit der durch das HI-Virus hervorgerufenen Schwächung des Immunsystems zu tun. Tuberkulose hat ihre Ursachen aber auch in schlechter Ernährung und engen Wohnverhältnissen und ist damit eine Krankheit der Armen. Sie wird übrigens durch Bakterien hervorgerufen.»
    Nachdem sie das Gerät geputzt und alles wieder versorgt hat, setzt sie abermals zu einer Erklärung an: «Das Heimtückische an Aids ist auch, dass so viele Krankheiten aufs Mal auftauchen können. Nehmen wir an, jemand hat eine Tuberkulose und dazu noch ein Kaposi-Sarkom entwickelt. Bevor wir mit der Tri-Therapie beginnen können, muss die Tuberkulose ausgeheilt werden. Ist es so weit, müssen wir dem Organismus Zeit lassen, sich an die Medikamente gegen Aids zu gewöhnen, erst dann kann die Chemotherapie gegen den Hautkrebs eingesetzt werden.»
    «Alles sehr komplex.»
    «Alles sehr, sehr komplex.»
    Wir setzen uns in den Hof des Ambulatoriums, wo die Ärztin darauf wartet, von ihrem Mann abgeholt zu werden, damit sie nicht zwei Stunden in einem überfüllten Taxi nach Hause fahren muss.
    «Es kann dauern, bis er kommt. In Afrika ist man selbst dann nicht pressiert, wenns pressiert.»
    Sie erzählt mir, sie arbeite in einem öffentlichen Spital, und auch dort habe man oft kein Wasser und keinen Strom.
    «Wir können manchmal nicht röntgen, weil zum Entwickeln frisches Wasser fehlt, und schon gar nicht operieren, weil gebrauchte Instrumente ohne Strom nicht sterilisiert werden können.»
    Irgendwie, resümiert sie schliesslich, sei im Moment alles aus dem Lot, sogar das Wetter.
    «Das Wetter, warum das Wetter?»
    «Eigentlich ist im März die kleine Regenzeit, und von Regen haben wir im Moment nicht die Spur, oder? Kommt dazu, dass letzte Woche der Harmattan wütete, und der kam hier, soweit ich mich erinnere, noch nie im März.»
    «Harmattan?»
    «Ein Wind, der aus der Wüste kommt und …»
    «Ich weiss, es muss schlimm gewesen sein, mein Flugzeug flog deswegen nach Paris zurück.»
    In diesem Moment kommt ihr Mann.
    «Grüssen Sie Lotti von mir, sie macht wunderbare Arbeit. Ich freue mich sehr, ihr helfen zu können.»
    Sie eilt hinaus. Eine fröhliche junge Frau, die von ihrem Privileg, studiert zu haben, etwas weitergibt.
    Lotti sitzt in ihrem Sprechzimmer und redet sich den Mund fusselig. Vor ihr sitzt eine Frau, die nichts davon hören will, dass Einläufe, gepfeffert mit Chilisamen, den ganzen Verdauungstrakt mit der Zeit zerstören.
    «Meine Mutter hat das schon gemacht, genau wie meine Grossmutter. Warum soll ich das also nicht auch tun?»
    «Weil du dir die Darmflora zerstörst und dich der letzten Vitamine beraubst, die dein Körper noch herausfiltern könnte!»
    «Das höre ich zum ersten Mal.»
    «Das glaube ich dir gerne, aber du wirst es von mir nicht zum letzten Mal hören, ich …»
    Lottis Geduld ist unglaublich, wie oft habe ich sie in den letzten Tagen dieses Problem erläutern hören. Die Unsitte, sich mit Einläufen zu säubern, hat ihr schon enorm viel Energie abverlangt. Aber Lotti gibt nicht auf. Dass sie mit ihrer Hartnäckigkeit Erfolg hat, zeigt sich auch im Sterbespital, wo sich neuerdings die Verwandten zu den Sterbenden setzen. Lottis unermüdliches Erklären und Mutmachen und Angstnehmen hat es vielen der Angehörigen ermöglicht, sich ihren Liebsten bis zum Ende zu widmen. Eine Haltung, von der sich bei uns manch einer eine Scheibe abschneiden könnte. Wir verlassen uns auf die Technik, hängen unsere Nächsten an Schläuche, künstliche Lungen und Herz-Kreislauf-Maschinen und bekämpfen damit oft nicht den Tod, sondern das Leben. Nehmen beidem – dem Tod und dem Leben – die Würde.
    Abreisen. Packen. Weggehen. Heimgehen. Adieu sagen. Heute! Ich gehe aufs Zimmer, stopfe das Wenige, das ich mitgenommen habe und nicht hier lassen will, in die Tasche.
    «Du packst?» Lotti scheint mit der Sprechstunde fertig zu sein.
    «Es fällt mir jedes Mal ein bisschen schwerer wegzugehen, wobei ich lügen müsste, wenn ich nicht zugeben würde, wie sehr ich mich auf eine Dusche freue!»
    «Das kann ich gut verstehen. Was meinst du, sollen wir die Kinder heute Nachmittag noch zu einem Eis in die Stadt entführen?»
    «Hast du Zeit?»
    «Ich nehme sie mir.»
    Eine Stunde später sitzen die Kleinsten – alle in denselben rot-weiss karierten kurzen Latzhosen – im Auto auf den Knien der Grösseren. Sogar Alimata kommt mit. Zwar nicht
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