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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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rauschen. Es trieb die letzten Nachzügler der Krämpfe aus den Gliedern. Bis zum nächsten Anfall.
    Während er sich abtrocknete, sah er in den Spiegel. Ein aschfahles Gesicht erwiderte den Blick. Die Haut war durchzogen von roten aufgeplatzten Adern, die Nase angeschwollen. Die Schultern dagegen waren eingefallen, sein Brustkorb dürr und knochig. Auf den Armen breiteten sich blaue Flecken aus, die ihn noch tagelang an seinen Sturz erinnern würden.
    Vor langer Zeit hatte dieser Körper vor Kraft gestrotzt, damals, als er seinen Eltern auf den Feldern im Brandenburger Land geholfen hatte. Dort war seine Heimat gewesen, die Bauernkate seiner Eltern, ein wirkliches Zuhause. Aber diese Zeit war unwiederbringlich vorbei. Nach dem Tod seiner Eltern war der Hof verkauft worden, weil weder er selbst noch Kahlscheuers Geschwister Interesse an Rüben, Kühen und Treckern gehegt hatten. Heute bestellte ihn ein Landwirt, der das Haus einreißen und anstelle dessen eine moderne multifunktionale Scheune hatte bauen lassen. Seine Wohnung lag ganz woanders.
    Geblieben waren Kahlscheuer die Erinnerungen. Außerdem eine hinterhältige Krankheit und viele Fragen, auf die er, sosehr er sich auch bemühte, keine Antworten fand: Wer war er? Was wollte er? Was war seine Berufung? Und warum ausgerechnet er?
    Er machte es sich im Bett bequem, so gut es eben ging. Wenn Gelenke so steif wie das Eis draußen vor der Tür waren, man sich kaum bewegen konnte und das Aufstehen wie jeden Tag eine Tortur zu werden versprach, wurde Bequemlichkeit zu einem unbezahlbaren Luxus.
    Wie ein Leichentuch spannte sich die Decke über seinem kranken Körper. Vielleicht war es besser, wenn er starb. Er hielt sich die Hand vors Gesicht. Die kleine Nachttischlampe enthüllte Klauen, faltig und verkrümmt. War er nicht schon längst tot?
    Warum ausgerechnet ich?
    In seiner Zeit als Priester in Berlin war ihm diese Frage oft gestellt worden. Denn wenn das Schicksal es nicht gut mit den Menschen meinte, suchten sie verzweifelt nach einer Antwort auf die Frage, warum es ausgerechnet sie erwischt hatte. Warum unterwarf Gott sie einer solchen Prüfung?
    Nie war er um eine Antwort verlegen gewesen. Er hatte ihnen von Gott erzählt. Er zitierte die Bibel, in der niemals behauptet wurde, das Leben sei einfach. Hatte Jesus nicht einmal gesagt: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich.« Und fürwahr, Jesus’ Leben war ein steiniger Weg gewesen.
    Seit Kahlscheuer selbst diesen Pfad beschritt, versagten die Formeln, die die Bibel bot. Es durfte ihn daher nicht verwundern, dass die Kirche von St. Clara sich nicht mehr füllte. Er konnte von den Leuten schlecht verlangen, dass sie ihm auf seinem Weg folgten, wenn er selbst blindlings durch die Nacht stolperte. Mit einem Anflug von Erheiterung dachte er daran, selbst eine dieser verlorenen Seelen zu sein, von denen der junge Philip Hader gesprochen hatte. Vielleicht waren nicht die Toten gemeint, sondern die Lebenden, die ohne Gott an ihrer Seite durch die Welt irrten.
    Das brachte seinen Gedanken zurück zu Eleonore Berder, und das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. Denn Haders Großmutter war vor seiner Tür, der Tür der Kirchengemeinde, gestorben. Nein, sie war umgebracht worden.
    Ermordet!
    Er fuhr aus dem Kissen hoch. Er wunderte sich nicht einmal darüber, wie leicht ihm die Bewegung fiel. Denn das Wort stach wie ein Stachel in seinen Schädel. Dieser Schmerz war für den Moment heftiger als der in seinen Gliedern.
    Wie weit war es mit ihm gekommen? Waren seine Zweifel, seine eigene Gottlosigkeit, so weit gediehen, dass er einen Mord deckte? Ausgerechnet an einer alten, kranken Frau, deren größte Verfehlung im Leben wahrscheinlich darin bestanden hatte, es in Einsamkeit zu verbringen – ohne ihre Tochter, ihren Enkel, ohne ihre Familie. Was hatte es mit Philip auf sich, dass dieser Lacie nach ihm suchte? War der Junge ebenfalls in Gefahr?
    Warum ausgerechnet ich?
    Vielleicht war das die Lösung. Er musste sich seiner Verantwortung stellen, schließlich war er immer noch ein Priester.
     
     
    Berlin
     
    Beatrice erwachte mit einem Schrei, doch kein Laut drang über ihre Lippen. Stattdessen herrschte eine heisere Stimme, die nicht ihr gehörte: »Seien Sie still oder Sie werden sterben.«
    Erschrocken riss sie die Augen auf und sah sich einem schwarzen Schemen gegenüber. Vor einem grellen Hintergrund beugte er sich zu ihr herab, ein finsterer Schatten, der ihr
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