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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Tresorraum der Royal Bank of Scotland nichts wahrgenommen, als sie die Box aus dem Safe gehoben hatte. Erst als sie sie geöffnet hatte, war ihr das eigentümliche Leuchten aufgefallen. Als sie das Achat schließlich berührt hatte, hatte sie das unglaubliche Pulsieren aus dem Inneren erfahren, diese mächtige Kraft, diese grenzenlose Weisheit.
    »Machen Sie die Schachtel auf«, verlangte sie.
    Er musterte sie skeptisch. »Das habe ich bereits.«
    »Dann machen Sie es noch einmal.«
    Er war nicht überzeugt. »Hören Sie, wenn Sie versuchen, mich übers Ohr zu hauen, dann…«
    »Halten Sie den Mund!«, fuhr sie ihn an.
    Sein Kopf ruckte wütend empor, doch sein Blick flackerte, und der Zorn erlosch. An seine Stelle traten Müdigkeit, Verzweiflung und Unsicherheit, eine andere Form der Dreifaltigkeit, die ihn beseelte. Doch diese erklärte nicht, warum das Achat seinen Dienst verweigerte. Mit fester Stimme, die ihre eigene Verunsicherung überdeckte, sagte sie: »Machen Sie es oder lassen Sie es bleiben!«
    Sie schloss die Augen. Sie bekam Angst, dass es am Ende doch ein Irrtum war. Oder lediglich ein dummes Spiel, das er mit ihr trieb, nur um sie jetzt gleich mit einem hämischen Grinsen zu töten. Reingelegt!
    Sie hörte, wie er die Schatulle aufklappte. Er seufzte.
     
     
    Berlin
     
    Der Wind trieb Schneeflocken scharf wie Glassplitter über den Bahnsteig. Den wenigen Pendlern, die sich an diesem frühen Sonntagmorgen zur Arbeit bemühten, bot die nach allen Seiten hin offene S-Bahn-Station am Treptower Park nur wenig Schutz vor der schonungslosen Naturgewalt. Mürrisch in dicke Winterkleidung versunkene Gestalten kauerten im Aufgang zum Bahnsteig oder im Windschatten des kleinen Bahnwärterhäuschens. Ein grimmiger Mann in der orangen Uniform der Stadtwerke, ein leuchtendes Signal im weißen Tumult, hockte sogar hinter dem schmalen Fahrkartenautomaten.
    Philip drückte sich eng an eine Plakatwand, die mit Werbung für Parfüm beklebt war. Über einem abstrahierten violetten Weihnachtsbaum las er den Slogan: For everyone who has a heart! Unweigerlich dachte er an die zurückliegenden Stunden. Daran vor allem, wie er Chris’ Wohnung mit pochendem Herzen verlassen hatte. For everyone who has a heart! Es war, als verspottete ihn jetzt sogar die Werbung.
    Er beobachtete eine Traube Jugendlicher. Ihrer schrillen Kleidung nach zu urteilen befanden sie sich auf dem Heimweg aus den Clubs. Doch von der Ausgelassenheit einer Partynacht im Tresor oder Ostgut war nichts zu spüren. Sie standen dicht beieinander, schlangen sich zitternd die viel zu dünnen Sachen um den Leib und bereuten lautstark, den Club überhaupt verlassen zu haben.
    Es war noch gar nicht lange her, da war Philip selbst eines dieser Berliner Nachtgeschöpfe gewesen. Lag das wirklich erst eine Woche zurück? Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit, in der sich sein ganzes Leben verändert hatte. Alles hatte mit dem Mord an der jungen Frau auf dem Kudamm begonnen. Vor über 70 Jahren. Er hatte ihr das Leben gerettet, damit sie ihr Kind zur Welt bringen konnte: Ritz. Dieser hatte einem anderen Kind das Leben retten müssen: Philip. Jetzt wurde er selbst Vater. Es war, als schließe sich ein Kreis. Erneut dachte er: Es geht immer nur um die Kinder. Aber der tiefere Sinn, der hinter allem steckte, der wollte sich ihm noch immer nicht erschließen.
    Frustriert stieß er den Atem aus, der vor seiner Nase zu einer gläsernen Wolke zu gefrieren drohte. Die Schneeflocken waren hart wie Hagelkörner. Sie fielen dicht an dicht auf den Bahnsteig, die Gleise und die Sträucher, die sich jenseits des Bahnhofes erhoben. Den Allianz-Tower dahinter, die Straße, die skelettierten Bäume rechts und links auf den Gehsteigen hatte der Sturm längst gefressen. Ein Wunder, dass überhaupt noch Züge fuhren.
    Ein Grollen erfasste den Bahnsteig und schwoll wie ein dumpfer Donner an. Wie aus dem Nichts durchbrach ein Triebwagen das Schneegestöber. Das gelbe Licht der Neonröhren im Waggoninneren erschien wie eine warme rettende Insel. Die Passagiere auf den Sitzen wirkten mit ihren Taschen und Koffern wie Gestrandete.
    Kaum dass der Zug am Bahnsteig stillstand, traten die Menschen aus dem Schutz ihrer Unterstände hervor. Wie in Zeitlupe schlichen sie zu den Waggons, behutsam darauf bedacht, sich nicht von dem vereisten Bahnsteig aufs Kreuz legen zu lassen. Der Mann in der Uniform rutschte trotzdem aus, wankte, griff nach einem Halt. Beinahe hätte Philip die Hand nach ihm
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