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Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig
Autoren: Christian Ankowitsch
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zwangsläufig
größer
werden. Sich auf einen Schmerz zu konzentrieren ist gleichbedeutend mit dem Befehl: «Werde größer, Schmerz! Quäl mich!»
    Kein Wunder also, daß die Kinder erst einmal Angst bekommen, wenn Dobe ihnen von seiner Idee erzählt. Sie fürchten zweierlei. Den Schmerz, was sonst. Und daß sie es nicht mehr schaffen, den herbeigerufenen Geist wieder in seine Flasche zurückzubefehlen. Dennoch lassen sich die Kinder auf Michael Dobes Zumutung ein, denn er stellt ihnen während seiner Vorgespräche höchst verlockende Dinge in Aussicht. Schleichen wir uns also für einen Moment in eine dieser Sitzungen, wie sie Michael Dobe mit seinen kleinen Mitwissenschaftlern veranstaltet.
    Als er ihn bittet, sich ganz auf seinen Schmerz zu konzentrieren, zögert Martin erst, schließt die Augen und beginnt mit der peinigenden Übung. Weil Michael Dobe nicht weiß, wann Martin es geschafft hat, seine Schmerzen hervorzulocken, haben die beiden eine Verabredung getroffen. Sobald Martin es geschafft hat, muß er laut «stopp!» sagen. Nach etwa ein bis zwei Minuten ist es soweit. Martin sagt «stopp!». Das ist Michael Dobes Stichwort, um mit jener «Ablenkungstechnik» zu beginnen, die die beiden ausführlich besprochen haben und die Martin als Hausaufgabe zusammen mit dem Team und alleine mehrmals pro Tag geübt hatte. «Jetzt geh mit dem Schmerz einen Punkt nach unten, Martin», sagt Dobe dann. Martin schließt die Augen, kurze Zeit später lächelt er ein wenig. «Jetzt geh mit dem Schmerz zwei Punkte nach oben», sagt Michael Dobe. Martins Lächeln verschwindet. Eine halbe Minute später nickt er. «Jetzt geh drei Punkte nach unten, Martin.» So sitzen die beiden da, und Martin läßt seine Schmerzen Achterbahn fahren.
    Aus der Perspektive des interessierten, im Grunde aber unbeteiligten Beobachters wirkt diese kleine Übung nicht weiter aufregend. Für Kinder wie Martin hingegen ist sie der Schritt in eine neue Welt. Das schreibt sich leicht hin, aber genau so ist es. In dieser neuen Welt ist der chronische Schmerz keine dunkle, unbeherrschbare Macht mehr, die kommt und geht, wann sie will. Vielmehr läßt sie sich bewußt herbeizitieren. Sie läßt sich Befehle erteilen, größer zu werden oder kleiner, in den Hintergrund zu treten oder sich wichtig zu machen. Und wie das so ist mit Monstern, die unseren Befehlen gehorchen – sie hören auf, welche zu sein. Und verwandeln sich … Ja, in was verwandeln sie sich? Dazu sagen Kinder wie Martin: «Ich bin jetzt der Chef!»
    Der weitere Weg der Patienten ist beileibe nicht einfach. Da ist zum Beispiel Martins kranke Mutter: Ihr langes Leiden und die Sorge um ihren Sohn haben dazu beigetragen, daß Martins Schmerzen chronisch wurden. Da ist seine Familie, die genauso wie Martin lernen muß, mit der eigenartigen Methode umzugehen. Aber haben die Kinder diese Übung erst einmal erfolgreich hinter sich gebracht, dann ist ihre bisherige Schmerzwelt aus den Angeln gehoben. Nicht, daß sie für immer verschwunden wären, ihre Schmerzen. Aber sie verlieren ihre Schicksalhaftigkeit und verwandeln sich in eine beherrschbare Größe. Es ist nichts mehr wie zuvor – was die Kinder eine Freude empfinden läßt, die ihnen fremd geworden war: «Jetzt kann ich endlich wieder alles machen, was ich will!»
    Fragt man Michael Dobe und seine Kollegen nach dem Drumherum ihrer Methode, dann bemühen sie sich zwar, nicht allzu wissenschaftlich zu werden, landen aber letztlich doch bei jenen Begriffen und Erklärungen, die die Medizin braucht, um eine Methode wie die PPT ernst zu nehmen. «Die Schmerzprovokation ist eine ‹interozeptive Exposition›», sagt daher auch Tanja Hechler, die Leiterin des Forschungsteams um Boris Zernikow, das in den Jahren 2004 bis 2006 die Wirksamkeit der Methode in einer «quasi-experimentellen Studie» [2] überprüfte. Das heißt: Man leitet die Patienten dazu an, sich unangenehmen inneren Reizen auszusetzen. Eine Methode, die auf anderen Gebieten bereits erfolgreich angewandt worden sei, etwa in der Therapie von Panikstörungen.
    Kann alles sein – den Kindern werden diese akademischen Credits egal sein. Denn für sie gilt bloß eines: daß ein paar Ärzte und Kinderpsychotherapeuten den Mut hatten, sich erst mal des Falschen zu bedienen, um das Richtige für sie zu erreichen. Um genau dieses Thema soll es in diesem Buch gehen.

Auf der Grundlage unseres einfachen Weltbildes entwickeln wir einfache Regeln. Mit deren Hilfe gelingt es uns immer
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