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Lucian

Lucian

Titel: Lucian
Autoren: Isabel Abedi
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Euro. »Wisst ihr noch? Wir sind mit Rebecca auf den Hamburger Dom gegangen und haben uns im Spiegelkabinett verirrt . . .«
    Und da war Sharky, meine alte Luftmatratze. Spatz hatte sie mir geschenkt, als ich vier war und noch nicht schwimmen konnte. Die Luftmatratze hatte einen Haifischkopf mit aufgerissenem Maul und riesigen Gummizähnen. Eine alte Dame hatte vor Schreck fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich im Freibad mit Sharky auf sie zupaddelte.
    In einer Kiste – auf die Spatz einen Totenkopf gemalt hatte – stapelten sich die Weihnachtsgeschenke ihrer Mutter, in einer anderen bewahrte sie ihre Insektenkästen auf. Ich nahm den obersten heraus und betrachtete sein Innenleben. Das hinter Glas gebannte Etwas war eins von Spatz’ ersten Kunstobjekten: ein gehäkelter Glockenpolyp aus rosafarbenem und grünem Baumwollgarn.
    Ich war gerade in die zweite Klasse gekommen, als Spatz an dieser Serie zu arbeiten begonnen hatte. Sie nannte sie Seemannsgarn und häkelte monatelang an den Seeanemonen, Sternkorallen und Glockenpolypen, die ich anschließend in die würfelförmigen Insektenbehälter legen und mit dem gläsernen Deckel verschließen durfte.
    Spatz hatte sich inzwischen eine Kiste mit der Aufschrift Schnick schnack vorgenommen. Sie legte ein Duschradio in U-Bahn-Optik, einen silbernen Handspiegel und ein pinkfarbenes Vampirgebiss zur Seite, dann zog sie einen Bilderrahmen hervor. »Schaut mal, die kleine Seejungfrau aus Kalifornien«, sagte sie und lächelte, als sie mir den Rahmen hinhielt.
    Auf dem Foto musste ich ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Zwei Hände hielten meinen ausgestreckten Körper über die Wasseroberfläche eines Sees. Ich hatte die Arme ausgebreitet wie im Flug und sah aus, als würde ich vor Glück platzen.
    »Das war am Lake Nacimiento«, sagte Janne. Ihre Stimme klang weich. Sie nahm mir das Bild aus der Hand und wischte den Staub von der Glasfläche. »In dem Sommer hast du schwimmen gelernt. Dad musste dich immer wieder in die Luft werfen, damit du von seinen Armen ins Wasser springen konntest.«
    Ich musterte mein lachendes Kindergesicht und musste daran denken, dass das mein einziger Besuch in Dads Heimat gewesen war. Ich konnte mich tatsächlich noch daran erinnern, wenn auch nur vage. Ich hatte den See immer Drachensee genannt. »Und?« Ich stupste meine Mutter an und zeigte auf das Foto. »Verscherbelst du mich jetzt auf dem Flohmarkt?«
    »Nein, ich denke, dieses Stück Vergangenheit bleibt bei uns«, sagte Janne entschlossen und legte das Bild zur Seite.
    Aus der Küche ertönte ein schrilles Klingeln.
    »Ding, dong«, rief Spatz. »Hier eine wichtige Durchsage: Der kleine Apfel Strudel möchte von seiner Mami aus dem Backparadies abgeholt werden.« Sie warf Janne einen unschuldigen Blick zu. Ich prustete los, aber Spatz’ Gelächter übertönte mich mühelos. Jannes Lebensgefährtin war sehr klein und ausgesprochen zierlich, sie hatte kurzes mausbraunes Haar, das ständig zerzaust war, und große goldbraune Augen. Nur ihre Lache stand im exakten Gegensatz zu ihremAussehen. Sie schepperte wie ein Sack voll leerer Blechbüchsen, die man über einer Kellertreppe auskippte – und ob man wollte oder nicht, sie riss einen mit sich.
    »Na, dann will die liebe Mami mal«, sagte Janne schließlich. Sie klopfte den Staub von ihrer Jeans und sah sich in dem Tohuwabohu um, das wir in der letzten Stunde um uns herum verbreitet hatten.
    Spatz brauchte ihr persönliches Chaos, das vor allem in ihrem Arbeitszimmer herrschte. Alltägliche Dinge wie Steuererklärungen oder der Umgang mit einem Computer überforderten sie komplett, während Janne das Organisationstalent schlechthin war und sich durch kaum etwas aus der Ruhe bringen ließ.
    Einzige Ausnahme: häusliche Unordnung. Herumliegende Sachen, nicht eingeräumtes Geschirr oder eine verkrümelte Arbeitsfläche in der Küche verwandelten meine gelassene Mutter in ein nervliches Wrack.
    »Keine Panik«, sagte ich, als ich den entsetzten Ausdruck bemerkte, der in ihr Gesicht getreten war. »Wenn du den Apfelstrudel holst, räumen wir nachher auf. Versprochen!«
    Janne nickte dankbar und bahnte sich durch die Kisten einen Weg nach unten.
    Wenig später kehrte sie mit einem beladenen Tablett zurück.
    »Lasst es euch schmecken, Ladys«, sagte sie und verteilte die Teller auf dem großen Bambustisch. »Aber danach gibt es keine Ausrede mehr. Wir werden diesen ganzen Müllhaufen aussortieren, so wahr ich Janne Wolff heiße.« Sie
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