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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma
Autoren: Michael Marrak
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eine Treppe in die Tiefe führte, prangte ein lässig hingepinselter Schriftzug: Moths.
    Nachtfalter …
    Es klang wie der Name für einen Nachtclub. Hinunter zum Eingangsportal zählte ich dreißig Stufen, dann stand ich vor einer massiven Metalltür ohne Schloß und Klinke. Es gab zwei Möglichkeiten, um ins Innere zu gelangen: Ich konnte die Tür aufbrechen, was mit Sicherheit einen Alarm auslösen würde, oder so lange dagegen trommeln, bis jemand sie öffnete. Letzteres konnte in die Hose gehen, wenn es nicht die stationäre Überwachungseinheit war, sondern der Lord selbst.
    Öffnete, wie in den meisten Fällen, der Wächter, war es am klügsten, Verzweiflung vorzutäuschen, mit der Begründung, man hätte sich versehentlich nach draußen verirrt. Dies kam gelegentlich vor, etwa bei der Reinigung des Belüftungssystems oder in seltenen Fällen von Wagemut. Da der Wächter die Physiognomie jedes einzelnen in der Station lebenden Individuums gespeichert hatte und es de facto keine Fremden innerhalb der Zonen geben konnte, gewährte diese Behauptung für gewöhnlich Einlaß. Sie führte allerdings direkt in die Dekontaminationskammer. Der tagelange Aufenthalt in ihr gehörte zu einem Prozedere, dessen Notwendigkeit im Glauben der Bewohner verwurzelt war. Es war keine Frömmigkeit, die etwa körperliche und seelische Reinheit vorschrieb, sondern ein strategischer Schachzug der Lords, welcher alle Bewohner glauben ließ, eine nukleare Katastrophe hätte das Leben auf der Oberfläche unmöglich gemacht. Sie waren der festen Überzeugung, der Boden sei verseucht, die Luft giftig und die Strahlung tödlich. Folglich mußte jeder, der sich nach draußen verirrt hatte, entseucht werden. Keiner der Kolonisten dachte daher ernsthaft daran, die Station zu verlassen, und die wenigsten wußten noch, daß es überhaupt möglich war. Für die meisten war die Außenwelt eine Legende, und je länger die Menschen in den Stationen weilten, desto intensiver wurde dieser Irrglaube. Aus den Augen, aus dem Sinn. Beständige Zufriedenheit fraß alle Zweifel. Folglich war vorgetäuschte Verzweiflung über das ›grauenvolle‹ Draußen die sicherste Methode, dem Wächter zu begegnen. Man mußte sich aufführen, als wäre man überzeugt, in fünf Minuten Freilandaufenthalt mindestens eine halbe Million Becquerel abgekriegt zu haben, ein Pfund Radioisotope im Körper zu beheimaten und mehr Blei durch die Adern zu pumpen als Blut.
    Beängstigend war neben dem Glauben an eine verseuchte Erde die Tatsache, daß niemand in den Kolonien wußte, wem sie ihre Situation zu verdanken hatten, geschweige denn, wer die Lords in Wirklichkeit waren. Sie hielten sich im Verborgenen, und zeigten sie sich den Kolonisten, dann nur in menschlicher Gestalt. Allen, die hinter dieser und den Türen der anderen Stationen ihr Dasein fristeten, fehlte ein wichtiger Bestandteil ihres Persönlichkeitsmusters, um das Sein vom Schein zu trennen. Die Erinnerungen an die eigene Person waren vorhanden, abzüglich des Wo und Wann. Die Erinnerungen an die Erde waren Träume, das Wissen um ein Draußen ebenso. Für die Menschen waren die Innenwelten der Stationen die einzigen Realitäten, die sie kannten und in denen sie zu existieren vermochten; Beton-Universen ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Ihre Bewohner waren in einem ewigen Augenblick gefangen, der so starr war wie der Sonnenuntergang, so endlos wie die Straße und so unwirklich wie ihr Leben.
    Das Lieblingssystem der Lords hieß Brot und Spiele. Die Gesellschaftsschichten, in denen ich auch meine eigenen Klone wiederfand, reichten von ganz oben bis ganz unten. Es war ein soziales Panoptikum, dem ich mich zu stellen hatte. Der Vorteil daran war: Wo ich auftauchte, war ich bereits auf die eine oder andere Weise integriert, eine perfekte Voraussetzung für einen Menschenraub. Die Entführung der Entführten … Was unterschied mich so sehr von den Lords? Kaum jemand kam dahinter, daß ich ein Außenweltler war; und falls doch, dann war es bereits zu spät und Prill auf meinem Beifahrersitz. Ich nannte es das Massenträgheitsmoment.
    Als erstes galt es, mein Alter Ego, das in dieser Station wandelte, für die Dauer meines ›Besuches‹ aus dem Weg zu räumen, um in seine Rolle zu schlüpfen. Ich hatte meine Klone in den zurückliegenden Stationen in den skurrilsten Rollen vorgefunden. Ihre Funktionen waren abhängig von den innerhalb der Kolonien herrschenden Hierarchien und Regierungsformen. Daß die Lords
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