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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma
Autoren: Michael Marrak
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Seitenablage. Für eine Sekunde glaube ich, den Schemen einer Pumpgun zu erkennen, lasse meine Finger über die Türverkleidung streichen. Einmal tief durchatmen.
    Prill hat die Stirn in Falten gelegt und macht ein komisches Gesicht.
    »Was ist los?« frage ich.
    Sie sieht mich an, grinst verlegen und schüttelt den Kopf. »Die Erinnerungen meiner Klone sind bis ins letzte Neuron angefüllt mit Geschlechtsakten. Zusammengerechnet bin ich wohl achtundsechzig Jahre lang fremdgegangen …« Sie bemüht sich, zu lächeln, aber es wird nur eine Grimasse. »Und du?«
    Ich lache auf. »Tut mir leid, aber ich fürchte, da kann ich nicht mithalten.«
    Sie boxt mir in die Seite (verdammt, in welcher Station hat sie so hart zuschlagen gelernt?) und steigt aus dem Wagen.
    »Was hast du vor?« frage ich.
    »Ich muß pinkeln.«
    Ich fahre mir mit der Hand über die Augen, während es hinter mir wieder Ratsch macht und ein neues Blatt aus Hanks Block das Zeitliche segnet. Das Geräusch erinnert mich an den Strafzettel. Ich ziehe ihn aus der Seitenablage, falte ihn auf – und staune: es ist kein 10$-Ticket. 82,6 FM steht statt eines Geldbetrages auf dem Zettel. Eine Sendefrequenz!
    Ich zögere, drücke dann den Sendersuchlauf. Auf der angegebenen Frequenz herrscht eine von leisem Knistern untermalte Stille, bei der sich unwillkürlich meine Nackenhärchen sträuben. Dann begrüßt mich eine wohlbekannte Stimme: »Bunny ho, Krieger!«
    Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.
    »Gamma?!« Ich sehe mich ungläubig um, kann aber außer Prills Haarschopf nichts Ungewöhnliches in der Umgebung entdecken. »Wie ist das möglich?« stottere ich. »Wie hast du das gemacht?«
    »Meinst du den Cop? Polizeifunk. Keine Sorge, Partner, du bist wirklich auf der Erde, und es ist der 22. Juli 2017. Hoffe ich zumindest. Wer kann schon wissen, welche Hintertür sich unser Freund Gennard in letzter Minute noch geöffnet hat? Wie dem auch sei, ich wollte dir zumindest Lebewohl sagen, ehe uns die Zeit endgültig trennt. Wirf mal einen Blick ins Handschuhfach.«
    Ich öffne es vorsichtig, als könnte eine Klapperschlange herausschnellen. Was mir jedoch entgegenrutscht, ist mein Notizbuch aus der Bunkerebene. Verblüfft nehme ich es an mich, blättere es mit zitternden Händen durch. Ich sehe hinauf in den Morgenhimmel, erhoffe, hoch oben das Enoe-Schiff zu erblicken. Doch das Firmament ist leer. »Wo bist du?« frage ich.
    »Irgendwo zwischen dem Nirgendwo und der Ewigkeit, um es mit deinen Worten zu sagen. Ein kurzer Ausflug ins 21. Jahrhundert, quasi im Vorüberziehen.« Der Empfang wird schlechter, als entferne sich der Sender. »Aber beginnt nun alles von vorn, oder entsteht etwas Neues? Verlaufen das Alte und das Neue in Harmonie … ich wünschte, ich könnte es erfahren und daran teilhaben – wie du.« Gamma lacht. Zum erstenmal höre ich es deutlich, wenn auch seine Stimme immer schwächer wird. »Erinnerst du dich an das, was Gennard sagte, als er über die Zukunft sprach?« fragt er kaum noch vernehmbar. »Er behauptete, wir würden wie Hamster in einem riesigen Zeitrad rennen, es im Kreis drehen und die Vergangenheit, die wir zurücklassen, als Zukunft wiedertreffen. Vielleicht hatte er recht. Aber in einer Sache hat er sich geirrt: die Gegenwart ist nicht das Ende der Straße. Sie ist der Anfang. Wer weiß, Stan, vielleicht kreuzen sich unsere Wege eines Tages wieder …«
    Dann herrscht Stille.
    Ich berühre das Radio, streiche mit der Hand gedankenverloren über die Senderanzeige. Aus den Boxen dringt nur noch statisches Rauschen. Was, um Gottes Willen, werde ich erleben? Die Schöpfung des Sublime? Dazu müßte ich 250 Jahre alt werden. Das ist absurd. Erst Prills sporadische Anfälle von Allwissenheit, dann Hanks rudimentäre BRAS-Skizzen, und jetzt Gammas mysteriöse Andeutung. In wem von uns lebt das Sublime fort? In Hank, in Prill, oder in mir? Vielleicht in uns allen? Trägt jeder eine Komponente davon für sein Fortbestehen in sich? Oder besser: für seine Wiedergeburt?
    Prill erscheint neben dem Wagen, schwingt sich auf den Beifahrersitz und haucht mir einen Kuß auf die Wange. »Fahren wir?« fragt sie in Aufbruchstimmung.
    Ich sehe sie an, als bedeute sie die Antwort auf alle Fragen.
    »Was hast du?« Sie studiert mich, schaut nach hinten zu Hank, der unverdrossen seinen Block vollkritzelt. »Habt ihr euch gestritten?«
    Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Nein. Ich hatte nur – eine Art Flashback …«
    Ihr Blick fällt auf das
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