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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition)
Autoren: Zadie Smith
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Leute aus der Stadt und den Zielen armer Leute vom Land.
    Als ihr diese Unterschiede auffielen, war Leah in gewisser Weise von sich selbst enttäuscht, weil dadurch keine echten Konflikte zwischen ihnen entstanden. Es war nicht leicht, sich damit abzufinden, dass der körperliche Genuss, den sie bei ihm fand und er bei ihr, so einfach die vielen anderen Vorbehalte aushebelte, die sie hatte oder hätte haben sollen oder glaubte, haben zu sollen.
    – Vielleicht ist ihre Mutter ja gestorben. Dann war sie damit beschäftigt und hat es einfach nur vergessen. Oder sie hat es unter der Tür durchgeschoben, und es ist zwischen die ganze Werbung geraten, und Ned hat es weggeschmissen. Oder sie kriegt gerade einfach nicht so viel Geld zusammen.
    – Na klar, Leah.
    – Lass das.
    – Was soll ich denn sonst sagen? Die Welt ist eben, wie sie ist.
    – Wieso versuchen wir’s dann überhaupt?
    Ganz sachlich gesehen ist eigentlich die Frau daran schuld, dass sie nie über Kinder gesprochen haben. Aus irgendeinem Grund ist sie nie auf den Gedanken gekommen, diese ganze Wahnsinnsvögelei könnte auf ein ganz bestimmtes, völlig offensichtliches Ziel zusteuern. Sie fürchtet sich vor diesem Ziel. Sachlich bleiben! Was ist das für eine Furcht? Sie hat mit Tod und Zeit und Altern zu tun. Ganz einfach: Ich bin achtzehn in meinem Kopf bin ich achtzehn und wenn ich nichts mache wenn ich mich einfach nur ganz ruhig verhalte dann ändert sich daran auch nichts und ich bleibe immer achtzehn. Für immer. Die Zeit steht still. Ich werde niemals sterben. Eine sehr banale Furcht. Die hat doch heutzutage jeder. Was noch? Sie ist einfach glücklich in dem Augenblick, in dem sie sich befinden. Sie hat das Gefühl, genau das zu verdienen, was sie hat, nicht mehr und nicht weniger. Mit jeder Veränderung riskiert sie, das Gleichgewicht gefährlich ins Wanken zu bringen. Warum muss sich dieser Augenblick denn verändern? Manchmal schneidet der Mann eine rote Paprika in der Mitte durch und leert die Samen in eine Plastikschüssel und gibt seiner Frau eine Zucchini zum Würfeln und sagt:
    Hund.
    Auto.
    Wohnung.
    So zusammen kochen.
    Vor sieben Jahren hast du von Stütze gelebt. Ich habe Haare gewaschen.
    Die Dinge ändern sich! Wir kommen voran, stimmt’s?
    Die Frau weiß nicht, wo »voran« ist. Sie wusste gar nicht, dass sie aufgebrochen sind, und auch nicht, woher der Wind weht. Sie will nicht vorankommen. Wenn sie ehrlich ist, hat sie geglaubt, sie würden für immer nackt zwischen den Laken liegen und nie etwas anderes erreichen als Befriedigung. Wozu muss Liebe sich denn »weiterentwickeln«? Wo ist »weiter«? Kein Mensch kann behaupten, sie wäre nicht gewarnt worden. Das kann wirklich keiner behaupten. Eine Fünfunddreißigjährige, die mit dem Mann verheiratet ist, den sie liebt, ist nun wirklich gewarnt, sie sollte aufpassen, zuhören und nicht aus allen Wolken fallen, wenn ihr Mann sagt
    – so viele Tage, an denen eine Frau fruchtbar ist. Nur drei, glaube ich. Es bringt also nichts, einfach zu sagen: ›Es kommt, wenn es kommen soll.‹ So jung sind wir nicht mehr. Wir müssen das ein bisschen, also, militärischer angehen, einen Plan machen und so.
    Sachlich gesehen hat er recht.

6
    Samstagmorgen. NUR KINKS DEN GANZEN TAG . Am Samstagmorgen verpasst Michel den Damen und Herren aus NW ihren Chic für den Samstagabendkick, damit sie frisch und ordentlich aussehen, und dort, im Salon, kann er seinen schwülstigen R&B voll aufdrehen, sein ganzes Oh baby oh shorty till six in the mawnin’ till the break a’dawn . Am Samstagmorgen ist sie frei! In der Schlafanzughose herumspringen, falsch mitsingen. Ned ist im Garten. Ned weiß laute Musik weißen Ursprungs zu schätzen. Er singt mit.
    Immer mischt sich auch etwas Manisch-Melancholisches in diesen Wochenendtaumel: Der innere Countdown bis zur Arbeitswoche läuft bereits. Im Spiegel tanzt sie mit sich selbst, Nase an Nase mit dem Spiegelbild. Das Original strahlt und singt. Gleichzeitig kommt etwas in ihr ins Wanken angesichts der Neuigkeiten im Spiegel: die graue Strähne, die aus dem Scheitel wächst, die Schwellungen und Fältchen um die Augen, der weichliche Bauch. Sie tanzt wie ein junges Mädchen. Sie ist kein junges Mädchen mehr. Wo ist nur die Zeit geblieben? Die Klingel hört sie erst, als Olive wie wild bellt.
    – Meine Mama hatte ’nen Herz... ’nen Herzinfarkt? Fünf ... Pfund.
    Diese junge Frau hat mit der Lockenschere geglättetes Haar und ist entweder fett oder
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