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Lokalderby

Titel: Lokalderby
Autoren: Jan Beinßen
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dann an, wenn zum Finale die Bayern gegen den FC Chelsea antraten. Turniere wie EM und WM verfolgte er zwar mehr oder weniger regelmäßig, aber auch nur solange die Nationalelf im Rennen war.
    Ja, Hermann hatte es nicht leicht mit ihm. Denn im Gegensatz zu Paul ging er völlig im beliebtesten Volkssport der Deutschen auf – zumindest als Zuschauer. Nicht auszuschließen, dass das eher unterkühlte Verhältnis der beiden seine Ursache in den sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung des Fußballs für den tieferen Sinn des Lebens hatte, sinnierte Paul.
    Nachdenklich und in Anbetracht seines mangelnden Einfühlungsvermögens in die Begeisterung seines Vaters auch ein wenig selbstkritisch, betrachtete er Hermanns Profil: das schlohweiße Haar, das er mit einem strengen Scheitel im Zaum hielt, die Brille mit dem dominanten schwarzen Rahmen, die angesichts seiner nachlassenden Sehkraft nicht mehr ganz so sorgfältig rasierten Wangen, den Mund mit den aufgeworfenen, meist vorwurfsvoll verzogenen Lippen.
    Paul war mittendrin in der Analyse der schwierigen Vater-Sohn-Beziehung – da brach um ihn herum die Hölle los!
    Die Fans an seiner Seite sprangen von ihren Plätzen. Auch Hermann schoss in die Höhe, wobei er offensichtlich Rheuma und Kniegelenksbeschwerden völlig vergaß. Der Jubel, der um Paul herum aufbrandete, erreichte einen düsenjetartigen Lautstärkepegel – das 1:1 war gefallen!
    »Siehst du, Bub«, meinte Hermann, als sie sich kurz darauf in den Menschenstrom eingliederten, der sich während der Halbzeitpause zu den Toiletten, Getränkeständen und Würstchenbuden bewegte. »Der Club ist eben doch kein Depp, wie viele behaupten.« Stolz schwang in seiner Stimme.
    »Und ich verpasse den Ausgleich«, sagte Paul zerknirscht. »Habe das Spiel direkt vor meiner Nase und verschlafe trotzdem die entscheidenden Sekunden.«
    »Macht nichts. Du wirst schon noch auf deine Kosten kommen. Jetzt sind unsere Jungs aufgewacht. In der zweiten Halbzeit jagen sie die Preußen zum Teufel.«
    »Wenn du meinst. . .«
    Paul, der sich anstelle des obligatorischen Bratwurstwecklas heute mal für eine schlichte Bockwurst mit Senf und Weißbrot entschied, stellte fest, dass er gerade drauf und dran war, die längste zusammenhängende Unterhaltung mit seinem Vater zu fuhren, an die er sich erinnern konnte. Denn meist beschränkten sich ihre Gespräche auf knappe Begrüßungsfloskeln, kurzgehaltene Arbeitsanweisungen für Paul, wenn es darum ging, den elterlichen Garten auf Vordermann zu bringen, oder die ein oder andere Kritik an Pauls Lebenswandel. Und sonst war es ohnehin seine Mutter Hertha, die den Ton angab und Hermann mit Vorliebe in seinen Femsehsessel bugsierte, um ungestört mit ihrem einzigen Sohn quatschen zu können.
    »Wir müssen uns ranhalten«, rief ihn Hermann zur Eile auf. »Gleich beginnt die zweite Halbzeit!«
    Lauthals feuerte die Nordkurve die Nürnberger Kicker an. Auch Hermann schrie aus Leibeskräften, als die heimische Elf einlief, um den Club zum nächsten Tor zu treiben. Paul konnte ebenfalls nicht anders, ließ sich von der Euphorie anstecken und stimmte in den fröhlichen Grölgesang ein.
    Mit einer beachtlichen Souveränität und frankenuntypischem Selbstvertrauen bestimmten die Clubberer die ersten Spielminuten des zweiten Abschnitts. Paul freute sich darauf, die nächsten unhaltbaren Schüsse auf das Weifentor zu erleben, wurde jedoch jäh enttäuscht: Die nervenstarken Niedersachsen ließen sich nicht ins Bockshorn jagen und gingen in der 49. Minute nach einem souveränen Angriff mit 2:1 in Führung.
    Die Zuschauer um Paul herum waren entsetzt. Hermann fiel völlig erschlafft in den Plastikschalensitz. Andere blieben stehen, trieben den FCN mit allerdings nur noch vereinzelten, unkoordinierten Rufen und Liedfetzen an. Für eine Aufholjagd blieb kaum mehr als eine halbe Stunde. Wenn die 96er nun konsequent dicht machten, dürften die Nürnberger das Nachsehen haben.
    »Was für ein Desaster«, gab Hermann ermattet von sich. »Wir waren doch gut im Spiel! Warum lassen sich diese Vollpfosten jetzt so vorführen?«
    »Gerade eben hast du die Clubberer noch gelobt, jetzt schimpfst du auf sie«, wies Paul seinen Vater auf den Widerspruch hin.
    Der winkte ab. »So ist das nun mal beim Fußball. Und jetzt sei still, Bub.«
    Eine Zeit lang sah es so aus, als müsste sich der Club tatsächlich mit einer Niederlage abfinden, bis sich schließlich durch eine kleine Unaufmerksamkeit des Gegners die
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