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Lokalderby

Titel: Lokalderby
Autoren: Jan Beinßen
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großen dicklichen Mann, ganz businesslike mit Anzug und Krawatte.
    Hermann zupfte Paul am Ärmel. »Das musst du fotografieren«, wisperte er.
    Paul sah ihn verwundert an. »Ich habe keine Kamera dabei. Außerdem hast du einen Infarkt. Schon dich und sei still!«
    »Infarkt? Ach was! Geht schon wieder.« Hermann zupfte abermals, energischer diesmal. »Mach Fotos! Das ist deine Chance.«
    »Aber Vati. . .« Paul, dessen Fotografeninstinkt längst angeschlagen hatte, sparte sich eine weitere Widerrede. Stattdessen holte er sein Handy aus der Tasche und aktivierte den Fotomodus. Er hielt drauf und drückte ab.
    Der arme Mann, um den sich alle scharten, kämpfte augenscheinlich ums Überleben. Die Sanis mussten weitestgehend hilflos mitansehen, wie er sich erneut krümmte, Arme und Beine anzog, nur um sie im nächsten Moment wieder von sich zu strecken.
    »Wer ist das denn?«, fragte Paul.
    Ehe Hermann antworten konnte, fing der Patient unter lautem Keuchen an zu spucken.
    »Oh Gott, wie schrecklich«, raunte Paul seinem Vater zu. »Der durchleidet Höllenqualen.«
    »Hast du genügend Bilder gemacht?«, fragte Hermann, der von einem Infarkt mittlerweile so weit entfernt war wie ein 30-Jähriger.
    »Jaja«, sagte Paul, befremdet über die Gefühlskälte seines Vaters. »Aber sag schon: Wer ist das?«
    »Eine ganz große Nummer beim Club.«
    Paul sah noch einmal hin, bemitleidete den Kranken, konnte in dessen verzerrtem Gesicht aber niemanden erkennen, den er als Promi identifizieren würde. »Wer, Vati, wer ist es? Ein Spieler, Trainer, Funktionär – oder gar der Präsident?«
    Sein Vater winkte Paul ganz dicht heran. Er flüsterte: »Der Busfahrer, Paul. Es ist der Chauffeur des Mannschaftsbusses!«

2
    Seit Stunden hatte er daheim am Herd gestanden, die Arbeit im Fotoatelier sträflich vernachlässigt, sich aber für sein neues Hobby wahrhaft ins Zeug gelegt: Nach den vielen Jahren, die er sich als bekennender Gourmet bei seinem Freund und Nachbarn Jan-Patrick in der formidablen Küche des Goldenen Ritters mehr oder weniger durchgeschnorrt hatte, wollte er endlich selbst den Kochlöffel schwingen. Geschlagene sechs Monate war er zu diesem Zweck bei Jan-Patrick in die Lehre gegangen und hatte fast jede freie Minute geopfert. Heute Abend versuchte er sich und seinem einzigen Gast zu beweisen, dass es die Mühe wert gewesen war.
    Der einzige Gast jedoch ließ auf sich warten: Seine Frau musste wohl mal wieder Überstunden im Oberlandesgericht schieben, was leider öfter vorkam. Aber dafür verdiente Katinka als Oberstaatsanwältin ja nicht gerade schlecht, dachte Paul im Hinblick auf sein eigenes, eher bescheidenes Einkommen als freier Fotograf, und überlegte, wie er die vorbereiteten Speisen warm halten könnte, ohne sie austrocknen zu lassen.
    Heute wollte er seine Liebste mit selbst gebackenem Baguette und Rohmilchbutter verwöhnen, mit hausgemachter Erbsensuppe und einem Schuss Kürbiskernöl, Wildkräutersalat aus Melde, Malve, Pimpernelle, als Hauptgericht Kaninchenrücken an Kartoffeln und Steinpilzen, und zum Dessert einen fränkischen Halbhartkäse aus Schafsrahm mit Weintrauben servieren. Während der Vorbereitung hatte er so etwas wie Lampenfieber verspürt und sich immer wieder sagen müssen: »Es kann nichts passieren, da muss ich jetzt durch.« Wie im Theater, bevor der Vorhang aufgeht.
    Nur leider öffnete er sich nicht, denn das Publikum blieb – obwohl schon mehr als eine halbe Stunde überfällig – noch immer aus. Dabei hatte Paul sich solche Mühe gegeben! Sogar ans Dekorative hatte er gedacht. Ein Aspekt, der ihm selbst nicht ganz so wichtig erschien, für den ihn jedoch Jan-Patricks Frau Marlen sensibilisiert hatte. »Das Drumherum muss stimmen, dann schmeckt das Menü doppelt so gut«, hatte sie ihm als Tipp mit auf den Weg gegeben. Und so hatte sich Paul angestrengt, die Essecke ihrer Wohnung an der Kleinweidenmühle so behaglich wie möglich zu gestalten: weiße Tischdecke, Tafelkerzen, akkurat gefaltete Stoffservietten, das geerbte Silberbesteck von Uroma Gertrud.
    45 Minuten nach der Zeit. Wo blieb Katinka bloß? Sie wusste doch, was sie erwartete. Nicht gerade wertschätzend, wie sie sich verhielt.
    Sollte er sie anrufen? Besser nicht. Das würde sie nur noch länger aufhalten und reizen. Dann käme sie schlecht gelaunt nach Hause und hätte schlimmstenfalls keinen rechten Appetit.
    Aber würde dem Essen die lange Wartezeit bekommen?
    Sicherheitshalber machte Paul einen Kontrollgang durch
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