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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Cory Doctorow
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gegangen waren. Der Brief schlug den Bogen von einer hitzigen Anklage über Verbitterung bis hin zu Trauer, eine einzige emotionale Achterbahnfahrt. Erst war es mir etwas unangenehm, fast peinlich, das zu lesen, weil das alles so persönliche Dinge waren – aber alles im Tempel war dazu da, gesehen zu werden.
    Jede einzelne Fläche war dem Gedenken an jemanden oder etwas gewidmet. Es gab Babyschuhe und Fotos von Großeltern, ein Paar Krücken und einen zerknautschen Cowboyhut, dessen Band aus getrockneten Blumen bestand. Die Besucherschar, kostümiert und halb nackt wie ein Zirkus vom Ende der Welt, lief feierlich von einer Botschaft zur nächsten. Oft standen den Menschen beim Lesen Tränen in den Augen, und es dauerte nicht lange, da weinte auch ich. Es berührte mich auf eine Art und Weise, wie ich das noch nie erlebt hatte – vor allem eingedenk der Tatsache, dass wir das alles Sonntagnacht verbrennen würden, ehe wir Black Rock City demontierten und nach Hause zurückkehrten.
    Ange hatte sich in den Staub gehockt und blätterte in einem Heft voller düsterer Zeichnungen. Ich ging weiter ins zentrale Atrium, einen hohen, offenen Raum, an dessen Wänden sich die Gongs reihten. Der Boden war voller Leute. Sie saßen herum oder lagen mit geschlossenen Augen da und nahmen die Feierlichkeit des Moments in sich auf, einige sehr ernst, manche mit stillem Lächeln, andere mit Tränen im Gesicht.
    In der Schauspielgruppe an der Highschool hatten wir einmal zu meditieren versucht. Es hatte nicht sonderlich gut funktioniert. Ein paar der Kids hatten ständig gekichert, und irgendein Geschrei vor der Tür und das Ticken der Uhr hatten mich daran erinnert, dass es jeden Moment läuten und eine tobende Meute Schüler durch die engen Gänge zur nächsten Unterrichtsstunde stapfen würde. Dabei hatte ich häufig gelesen, wie gut Meditation einem angeblich tat. In der Theorie ist es auch leicht: Man muss sich bloß hinsetzen und an gar nichts denken.
    Zeit, es auszuprobieren. Sobald ein Platz auf dem Boden frei wurde, zog ich meinen Mehrzweckgürtel zurecht, damit er mir nicht in den Hintern schnitt, und setzte mich hin. Über mir fielen Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster, grau-goldene Lanzen, in denen glitzernder Staub tanzte. Ich vertiefte mich in den Anblick dieser schwebenden Körnchen, dann schloss ich die Augen. Ich stellte mir ein Gitter aus vier weißen Quadraten vor, jedes von dicken schwarzen Rändern umgeben. Dann löschte ich in meinen Gedanken eines der Quadrate aus. Dann noch eines. Und ein weiteres. Jetzt war nur noch ein einziges Quadrat übrig. Ich löschte auch dieses.
    Nun war da gar nichts mehr. Ich dachte an nichts, im wortwörtlichen Sinn. Dann aber begann ich darüber nachzudenken, dass ich jetzt ja an gar nichts dachte, und gratulierte mir innerlich schon zu meiner Leistung, bis mir auffiel, dass das so nicht funktionierte. Also stellte ich mir wieder meine vier Quadrate vor und fing von vorn an.
    Ich weiß nicht, wie lange ich da saß, ein paar Mal aber schien es mir, als würde sich die Welt von mir entfernen und mir zugleich näher sein als je zuvor. Ich lebte in genau diesem Augenblick, ohne an irgendetwas danach oder zuvor zu denken. Ich war einfach nur da. Dieser Zustand dauerte jedes Mal nur den Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem … Das hatte schon was.
    Ich schlug wieder die Augen auf und atmete im langsamen, gleichmäßigen Takt der Gongschläge. Irgendetwas grub sich in meinen Hintern, vielleicht ein Teil meines Gürtels. Das Mädchen vor mir hatte sich eine komplizierte Formel zwischen die Schulterblätter brennen lassen, ein tiefes Relief mathematischer Symbole und Zahlen aus verbrannter Haut. Irgendwer rauchte Gras. Jemand anderes schluchzte leise. Vor dem Tempel rief jemand etwas. Jemand lachte. Die Zeit kroch so träge wie Sirup dahin, kam mir fast klebrig vor. Nichts schien mehr von Bedeutung, und alles war einfach nur wundervoll. Das war’s wohl, was ich mein Leben lang gesucht hatte, ohne es zu wissen. Ich lächelte still vor mich hin.
    »Hallo, M1k3y«, zischte eine Stimme neben mir, ganz leise und so nahe an meinem Ohr, dass die Lippen mein Ohrläppchen kitzelten. Auch die Stimme selbst war wie ein Kitzeln und rührte etwas in meiner Erinnerung auf. Ich kannte diese Stimme – auch wenn ich sie sehr lange nicht mehr gehört hatte.
    Ich drehte den Kopf, ganz langsam, als wäre ich eine Giraffe mit einem baumlangen Hals.
    »Hallo Masha«, sagte ich ruhig. »Ausgerechnet hier
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