Lipstick
Ich sagte es so laut und bestimmt, daß es wahrscheinlich der ganze Tisch mitkriegte, und ärgerte mich im selben Moment darüber, daß ich überhaupt geantwortet hatte. Was ging es Micha eigentlich an, ob ich Kontakt zu Spermien hatte? Ich dachte an Hans und an Tom. Gestern nacht. Heute, nein, eigentlich zweimal heute. Wenn ich nun von einem der beiden Männer schwanger geworden war, ich müßte mir ein Gänseblümchen nehmen, um den Vater abzuzählen.
Die Flußkrebsschwänze auf meinem Teller sahen aus, als würden sie in der nächsten Sekunde zu zappeln anfangen, Riesenspermien, die vom Teller springen und in mich eindringen würden. Ohne mir dessen bewußt zu sein, hob ich den Kopf und guckte einen kurzen Moment lang in Jans Richtung, schob mir dabei mechanisch ein Stück Brot in den Mund. Jan hatte ebenfalls seinen Blick auf mich geheftet, im gleichen Moment tat er, was ich gerade tat, mit den Fingern ein Stück Brot zerpflücken und mich anschauen. Neugierig, begehrlich und – wie mir schien – auch ein wenig spöttisch.
Von dem ein Kind, dachte ich und bestrafte mich sofort für einen derart idiotischen Gedanken, indem ich wegsah.
»Wie läuft’s so am Theater?« fragte ich unverzüglich Annette, die ebenso unverzüglich zu einem wunderschönen Monolog über die Karrierechancen einer begabten Provinzschönheit ansetzte.
Es war ein Alptraum. Das Brot, das in meinem Mund zu einem Brei aufquoll, Annettes dummes Gesabbel und mir schräg gegenüber Micha, ein schmatzendes, wiederkäuendes Ungeheuer, um das ich keine Frau der Welt beneidete. Es war einer der wenigen Momente, in denen ich mir einen Tom an meine Seite wünschte, eine Art Begleiter, der mich davor bewahrte, mit anderen Erscheinungen dieses Sonnensystems smalltalken zu müssen, einen Kavalier, der mir Wein organisierte, sich darum kümmerte, daß meineHände auch warm waren, und der darüber hinaus Männern wie Jan signalisierte: Die gehört zu mir, laß deine aufdringlichen Blicke. Wenn ich mich wenigstens zu einem Flirt entschlossen hätte oder einfach die Tischdecke gelüpft, um Jans Schuhe zu begutachten, das wäre ja alles in Ordnung gewesen, aber mein Kopf befand sich leider in einem Zustand völliger Desorientierung.
»…ein verdammt herrliches Leben!« sagte Annette wie von ferne.
»Und du?«
Ich reagierte erst nicht, weil ich gar nicht auf die Idee kam, daß sie etwas über mein verdammt herrliches Leben wissen wollte. Erst als ich ihren Ellenbogen spitz in meiner Seite spürte, sah ich sie an.
»Wie bitte?«
»Immer noch Taubenzüchtervereinreporterin?«
»Jaja«, sagte ich, weil ich nicht die geringste Lust verspürte, irgendwelche Details aus meinem beruflichen Werdegang zum besten zu geben. »Taubenzüchtervereine sind sozusagen mein Lieblingsthema. Neben Sportvereinen aller Art.«
Annette schien zu verstehen, sie lächelte spargelquer und sagte mit einem Blatt Petersilie zwischen den Zähnen, alle großen Reporter hätten schließlich auf der Lokalseite irgendwelcher Blättchen angefangen.
»Du mußt es ja wissen«, gab ich lahm zurück und versuchte, obwohl sich mein Magen mittlerweile wie ausbetoniert anfühlte, ein weiteres Stück Brot herunterzuschlucken. Die Flußkrebsschwänze auf meinem Teller waren vermutlich schon seit einiger Zeit vermodert.
»Wieso, du …«, fing Micha an, aber ich trat ihn derart heftig gegen das Schienbein, daß er augenblicklich verstummte und sein Glas Weißwein auf ex austrank.
Ich hätte mich in frische Gebirgsluft auflösen mögen, von mir aus durch die Eßzimmerdielen den Abgang machen oder aus purer Verzweiflung den einen oder anderen meiner Tischnachbarn umbringen sollen – auf jeden Fall wollte ich weg von diesem Tisch, an dem ein Mann saß, der mich aus völlig unerfindlichen Gründen um meinen sowieso nur spärlichen Verstand brachte.
Zwar hatte ich keinen Vertrag mit Mäxchen abgeschlossen, aber er ahnte wohl, wie dreckig es mir ging, und fing übers Babyphon derart laut an zu brüllen, daß Greta wie von der Tarantel gestochen aufsprang und nach oben raste, während Micha uns Gäste nach nebenan bat, wo er den Kaffee servieren wollte. Ich nutzte die Gunst der Stunde und verließ ebenfalls den Raum.
Eine Zeitlang betrachtete ich mich im Spiegel der Gästetoilette, um schlußendlich festzustellen, daß ich gar nicht so übel aussah. Meine Haare fielen auch ohne viel Brimborium weich auf die Schultern, und – was ich äußerst merkwürdig fand – mein Gesicht hatte die
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