Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Blut zerkratzte trockene Haut und die in hungrigem Glanz funkelnden Augen.
    Mit meinem müden, zerquälten Hirn versuchte ich zu begreifen – woher in diesen Gegenden ein so riesiges Grab? Denn hier, schien mir, gab es keine Goldgrube – ich war ein Kolyma-Veteran. Dann aber dachte ich, daß ich nur ein Stückchen dieser Welt kannte, das umschlossen ist von einer Stacheldrahtzone mit Wachtürmen, die an die Zeltdachperiode im Moskauer Städtebau erinnern. Die Moskauer Hochhäuser sind die Wachtürme, die die Moskauer Häftlinge bewachen – so sehen diese Gebäude aus. Und was war zuerst da – die Kreml-Wachtürme oder die Lagertürme, die der Moskauer Architektur als Vorbild dienten? Der Turm der Lagerzone – das war die zentrale Idee der Zeit, von der Bausymbolik glänzend ausgedrückt.
    Ich dachte, daß ich nur ein Stückchen dieser Welt kannte, einen winzigen, kleinen Teil, daß zwanzig Kilometer weiter die Hütte von Geologen stehen konnte, die nach Uran suchen, oder ein Goldbergwerk für dreißigtausend Häftlinge. In den Falten der Berge läßt sich sehr viel verstecken.
    Und dann erinnerte ich mich an das gierige Feuer des Weidenröschens, an die grimmige Blüte der sommerlichen Tajga, die versucht, jedes menschliche Werk – gut wie schlecht – im Gras, im Laub zu verbergen. Daß das Gras noch vergeßlicher ist als der Mensch. Und wenn ich vergesse – wird das Gras vergessen. Doch der Stein und der Dauerfrostboden vergessen nicht.
    Grinja Lebedjew, der Vatermörder, war ein guter Traktorist und lenkte den gut geschmierten überseeischen Traktor sicher. Grinja Lebedjew machte seine Sache sorgfältig: mit dem Bulldozerschild funkelnd, schob er die Leichen zum Grab, stieß sie in die Grube und kam zurück zum Rücken.
    Die Leitung hatte beschlossen, daß die erste Fahrt, die erste Arbeit des Lend-Lease-Bulldozers nicht die Arbeit im Wald sein würde, sondern etwas wesentlich Wichtigeres.
    Die Arbeit war beendet. Der Bulldozer hatte einen Haufen Steine und Schotter auf das neue Grab geschaufelt, und die Toten waren unter den Steinen verborgen. Aber nicht verschwunden.
    Der Bulldozer näherte sich uns. Grinja Lebedjew,
bytowik
, Vatermörder, schaute uns – die Kürzelträger, die Achtundfünfziger – nicht an. Grinja Lebedjew hatte einen staatlichen Auftrag übertragen bekommen, und er hatte diesen Auftrag gemeistert. Dem steinernen Gesicht Grinja Lebedjews war der Stolz eingemeißelt, das Bewußtsein einer erfüllten Pflicht.
    Der Bulldozer donnerte an uns vorüber – auf dem Spiegelschild war kein einziger Kratzer, kein einziger Fleck.
    1965

Sentenz
Für Nadeshda Jakowlewna Mandelstam
    Menschen tauchten auf aus dem Nichts – einer nach dem anderen. Ein Unbekannter legte sich neben mich auf die Pritsche, wälzte sich nachts an meine knochige Schulter, gab mir seine Wärme – ein paar Tropfen Wärme – und erhielt dafür meine. Es gab Nächte, in denen mich gar keine Wärme erreichte durch die Fetzen der Steppjacke, der Wattejacke, und am Morgen sah ich meinen Nachbarn an wie einen Toten und wunderte mich ein wenig, daß der Tote lebt, auf einen Anschnauzer aufsteht, sich anzieht und demütig dem Kommando folgt. Ich hatte wenig Wärme. Wenig Fleisch war auf meinen Knochen geblieben. Dieses Fleisch reichte nur noch für Bitterkeit – das letzte der menschlichen Gefühle. Nicht Gleichgültigkeit, sondern Bitterkeit war das letzte menschliche Gefühl – das, welches den Knochen am nächsten ist. Der aus dem Nichts aufgetauchte Mensch verschwand am Tag – die Kohleschürfe hatte viele Abschnitte – und verschwand für immer. Ich kannte die Leute nicht, die neben mir schliefen. Ich stellte ihnen niemals Fragen, und nicht, weil ich ein arabisches Sprichwort befolgt hätte: frag nicht, dann wird man dich nicht belügen. Mir war ganz egal, ob man mich belog oder nicht, ich war jenseits der Wahrheit, jenseits der Lüge. Die Ganoven haben dafür eine harte, prägnante, grobe Redensart, voller tiefster Verachtung für den Fragenden: wenn du es nicht glaubst, nimms als Märchen. Ich fragte nicht und bekam keine Märchen zu hören.
    Was blieb bis zum Schluß bei mir? Die Erbitterung. Und mit dieser Erbitterung in mir gedachte ich zu sterben. Doch der Tod, ganz kürzlich so nah, rückte allmählich von mir ab. Nicht durch Leben wurde der Tod ersetzt, sondern durch ein Halbbewußtsein, eine Existenz, für die es keine Formeln gibt und die man nicht Leben nennen kann. Jeder Tag, jeder Sonnenaufgang brachte die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher