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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Gefahr eines neuen, des Todesstoßes. Doch der Stoß blieb aus. Ich arbeitete als Wassersieder, die leichteste aller Arbeiten, leichter als Wächter, aber ich schaffte es nicht, das Holz für den Titan zu hacken, den Siedekessel Marke »Titan«. Man hätte mich rauswerfen können, aber wohin? Die Tajga war fern, unsere Siedlung, eine »Außenstelle« in der Sprache der Kolyma, war wie eine Insel in der Tajgawelt. Ich konnte kaum meine Füße schleppen, die Entfernung von zweihundert Metern vom Zelt bis zur Arbeit schien mir unendlich, und ich setzte mich mehrmals zum Ausruhen hin. Ich erinnere mich noch heute an jede Vertiefung, jede Grube, jede tiefe Radspur auf diesem Todespfad; den Bach, vor dem ich mich auf den Bauch legte und das kalte, köstliche, heilende Wasser schlürfte. Die Schrotsäge, die ich mal auf der Schulter schleppte, mal hinter mir her schleifte, empfand ich als ungeheure Last.
    Ich schaffte es nie, das Wasser rechtzeitig aufzukochen, den Titan zum Mittagessen zum Kochen zu bringen.
    Doch keiner der Arbeiter – Freie, alles ehemalige Häftlinge – achtete darauf, ob das Wasser gekocht hatte oder nicht. Die Kolyma hatte uns gelehrt, Trinkwasser nur nach der Temperatur zu unterscheiden. Heiß und kalt, und nicht abgekocht oder unabgekocht.
    Der dialektische Sprung, der Übergang von Quantität zu Qualität war uns egal. Wir waren keine Philosophen. Wir waren Arbeiter, und unserem heißen Trinkwasser fehlten diese wichtigen Qualitäten des Sprungs.
    Ich aß, gleichgültig bemüht, alles zu essen, was mir unter die Augen kam – Speiseabfälle und -reste, vorjährige Beeren im Sumpf. Die Suppe von gestern oder vorgestern aus dem »freien« Kessel. Nein, von der gestrigen Suppe blieb bei unseren Freien nichts übrig.
    In unserem Zelt gab es zwei Gewehre, zwei Schrotbüchsen. Die Rebhühner hatten keine Scheu vor den Menschen und wurden in der ersten Zeit gleich vom Zelt aus geschossen. Die Beute wurde vollständig in der Asche des Lagerfeuers gebacken oder sorgsam gerupft und gekocht. Daunen und Federn fürs Kissen – auch ein Geschäft, sicheres Geld, ein Zubrot für die freien Herren der Gewehre und Tajgavögel. Die ausgenommenen, gerupften Rebhühner wurden in Konservendosen gekocht – in über ein Feuer gehängten Dreiliterdosen. Von diesen geheimnisvollen Vögeln fand ich niemals irgendwelche Überreste. Die hungrigen freien Mägen zerkleinerten, zermahlten, lutschten selbst die Vogelknochen restlos aus. Auch eines der Wunder der Tajga.
    Ich habe niemals ein Stückchen von diesen Rebhühnern probiert. Für mich waren die Beeren, die Graswurzeln, die Brotration da. Und ich blieb am Leben. Immer gleichgültiger, ohne Erbitterung schaute ich auf die kalte rote Sonne, auf die Berge, die Bergtundra, wo alles: Felsen, Bachwindungen, Lärchen, Pappeln – eckig und unfreundlich war. An den Abenden stieg vom Fluß kalter Nebel auf, und es gab keine Stunde rund um den Tajga-Tag, an dem mir warm gewesen wäre.
    In den erfrorenen Fingern und Zehen saß ein ziehender, dumpfer Schmerz. Die hellrosa Haut der Finger blieb auch rosa und leicht verletzlich. Die Finger waren ewig in schmutzige Lappen gewickelt und schützten die Hand vor einer neuen Wunde, vor Schmerz, nicht aber vor einer Infektion. Aus den großen Zehen beider Füße sickerte Eiter, und der Eiter nahm kein Ende.
    Ein Schlag gegen ein Gleisstück weckte mich. Ein Schlag an das Gleisstück beendete den Arbeitstag. Nach dem Essen legte ich mich gleich auf die Pritsche, natürlich ohne mich auszuziehen, und schlief ein. Das Zelt, in dem ich schlief und wohnte, sah ich wie durch einen Nebel, irgendwo bewegten sich Menschen, brach lautes unflätiges Gekeife, brachen Raufereien aus und – ein Augenblick der Stille vor einem gefährlichen Schlag. Die Raufereien endeten schnell, von allein, niemand bändigte, trennte die Streitenden, die Motoren der Rauferei soffen einfach ab – und die kalte Nachtstille trat ein mit dem bleichen hohen Himmel in den Löchern der Zeltplane, mit dem Schnarchen, Röcheln, Stöhnen, Husten, dem bewußtlosen Fluchen der Schlafenden.
    Eines Nachts nahm ich wahr, daß ich dieses Stöhnen und Röcheln hörte. Die Empfindung kam plötzlich, wie eine Erleuchtung, und sie machte mich nicht froh. Später, als ich mich an diesen Moment des Staunens erinnerte, begriff ich, daß das Bedürfnis nach Schlaf, nach Vergessen, nach Bewußtlosigkeit nachgelassen hatte – ich hatte mich ausgeschlafen, wie Moissej Moissejewitsch Kusnezow

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