Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Anfall.
    1965

Geologen
    In der Nacht wurde Krist geweckt, und der diensthabende Aufseher führte ihn durch die endlosen Korridore ins Kabinett des Krankenhaus-Chefs. Der Oberstleutnant des medizinischen Dienstes schlief noch nicht. Lwow, der Bevollmächtigte des Ministeriums für Innere Angelegenheiten, saß am Tisch des Chefs und zeichnete auf ein Blättchen Papier irgendwelche gleichgültigen Vögelchen.
    »Feldscher Krist aus der Aufnahme ist da, auf Ihre Aufforderung, Bürger Natschalnik.«
    Der Oberstleutnant machte ein Handzeichen, und der diensthabende Aufseher, der mit Krist gekommen war, verschwand.
    »Hör zu, Krist«, sagte der Chef, »man bringt dir Gäste.«
    »Es kommt eine Etappe«, sagte der Bevollmächtigte.
    Krist schwieg erwartungsvoll.
    »Du machst das Bad. Desinfektion und das übrige.«
    »Zu Befehl.«
    »Kein Mensch darf von diesen Leuten wissen. Keinerlei Kontakt.«
    »Wir vertrauen dir«, erläuterte der Bevollmächtigte und bekam einen Hustenanfall.
    »Mit dem Desinfektionsraum komme ich allein nicht zurecht, Bürger Natschalnik«, sagte Krist. »Die Steuerung und die Mischkammer mit dem heißen und kalten Wasser liegen weit auseinander. Dampf und Wasser sind getrennt.«
    »Das heißt ...«
    »Man braucht einen weiteren Sanitäter, Bürger Natschalnik.«
    Die Chefs sahen einander an.
    »Dann gibt es den Sanitäter«, sagte der Bevollmächtigte.
    »Du hast also verstanden? Zu niemandem ein Wort.«
    »Verstanden, Bürger Natschalnik.«
    Krist und der Bevollmächtigte gingen. Der Chef stand auf, löschte das Oberlicht und zog seinen Mantel an.
    »Woher so eine Etappe?«, fragte Krist den Bevollmächtigten leise, auf dem Weg durch den langen Vorraum des Kabinetts – eine Moskauer Mode, die man überall nachahmte, wo es Chefkabinette gab, zivile oder militärische, ganz gleich.
    »Woher?«
    Der Bevollmächtigte lachte laut.
    »Ach, Krist, Krist, ich hätte gar nicht gedacht, daß du mir so eine Frage stellen könntest ...« Und er sagte kühl: »Mit dem Flugzeug aus Moskau.«
    »Das heißt, sie kennen das Lager nicht. Gefängnis, Untersuchung und alles übrige. Der erste Spaltbreit freie Luft, wie es ihnen scheint – allen, die das Lager nicht kennen. Mit dem Flugzeug aus Moskau ...«
    In der nächsten Nacht füllte sich das hallende, weiträumige, große Vestibül mit fremdem Volk – Offizieren, Offizieren, Offizieren. Majore, Oberstleutnants, Oberste. Selbst ein General war da, kleingewachsen, jung, schwarzäugig. Unter den Begleitposten – kein einziger Soldat.
    Ein knochiger und hochgewachsener Greis, der Krankenhaus-Chef, beugte sich mühsam herab und meldete dem kleinen General:
    »Alles bereit zum Empfang.«
    »Hervorragend, hervorragend.«
    »Das Badehaus!«
    Der Chef machte Krist ein Handzeichen, und die Türen der Aufnahme öffneten sich.
    Die Menge der Offiziersmäntel trat auseinander. Das goldene Sternenlicht der Schulterstücke verblaßte – alle Aufmerksamkeit der Ankömmlinge und der Empfangenden galt einer kleinen Gruppe schmutziger Leute in irgendwelchen abgetragenen Lumpen – aber keiner Staatskleidung, nein – der eigenen, zivilen, aus der Untersuchungshaft, von der Streu auf den Böden der Gefängniszelle verschlissenen.
    Zwölf Männer und eine Frau.
    »Anna Petrowna, bitte«, sagte ein Häftling und ließ der Frau den Vortritt.
    »Aber nein, gehen Sie und waschen Sie sich. Ich bleibe erst einmal sitzen und ruhe mich aus.«
    Die Tür der Aufnahme schloß sich.
    Alle standen um mich herum und blickten mir gierig in die Augen, versuchten, etwas zu erraten, noch ehe sie fragten.
    »Sind Sie schon lange an der Kolyma?«, fragte der mutigste, nachdem er in mir einen »Iwan Iwanowitsch« erkannt hatte.
    »Seit siebenunddreißig.«
    »Siebenunddreißig waren wir alle noch ...«
    »Still«, mischte sich ein anderer, älterer ein.
    Unser Aufseher erschien, der Sekretär der Krankenhaus-Parteiorganisation Chabibulin, ein besonderer Vertrauter des Chefs. Chabibulin überwachte sowohl die Ankömmlinge als auch mich.
    »Und das Rasieren?«
    »Der Friseur ist bestellt«, sagte Chabibulin. »Der Perser Jurka, ein Ganove.«
    Der Perser Jurka, der Ganove, erschien bald mit seinem Instrument. Er war an der Wache instruiert worden und grunzte nur.
    Die Aufmerksamkeit der Ankömmlinge wandte sich wieder Krist zu.
    »Machen wir Ihnen keine Scherereien?«
    »Wie könnten Sie mir Scherereien machen, meine Herren Ingenieure – das sind Sie, nicht wahr?«
    »Geologen.«
    »Meine Herren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher