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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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träume immer diesen Traum«, sagte sie. »Ich befinde mich darin an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und ich stehe auf der Vorderterrasse und halte Ausschau nach dem Kater. Es hat geschneit, nassen Frühlingsschnee, und mir kommt der Gedanke, daß er im Schnee begraben wurde, aber dann sehe ich ihn draußen im Obstgarten, wie er sich den Weg durch den Schnee bahnt, mit kleinen, hohen, lustigen Schritten.«
    Ich wußte nicht, was als nächstes kommen würde, aber bei dem Wort Obstgarten setzte ich mich auf die Lehne des Zweiersofas und blickte ängstlich über die Schulter, um zu sehen, ob Richard oder Broun im Anmarsch waren. Es war niemand auf der Treppe.
    »Ich rief nach ihm, aber er beachtete mich überhaupt nicht, deshalb ging ich ihm nach.« Sie hielt das Veilchen wie ein Sträußchen vor sich und zupfte Blätter davon ab, mit abwesenden, verzweifelten Bewegungen. »Ich schaffte es wohlbehalten bis zum Baum, und ich versuchte, den Kater hochzuheben, aber er wollte mich nicht lassen, und ich versuchte ihn zu fangen, und ich trat auf etwas…« Sie hatte jetzt alle Blätter abgerissen und machte sich nun an die Blüten. »Es war ein Unionssoldat. Sein Arm steckte in einem blauen Ärmel, und er streckte die Hand aus dem Matsch heraus. Er hielt noch sein Gewehr, und am Ärmel war ein Stück Papier befestigt. Jemand hatte ihn im Obstgarten begraben, aber nicht tief genug, und als der Schnee angefangen hatte zu schmelzen, hatte er seinen Arm freigegeben. Ich bückte mich und machte das Papier los, aber als ich es ansah, war das Papier leer. Mir kam der Gedanke, daß es eine Art Nachricht wäre, und das machte mir Angst. Ich trat zurück, und etwas gab unter meinem Fuß nach.«
    Von dem Veilchen waren nur noch die mit Erde bedeckten Wurzeln übrig, und sie zerdrückte sie in ihrer Faust. »Es war die Mütze eines weiteren Soldaten. Ich war nicht auf seinen Kopf getreten, aber wo der Schnee geschmolzen war, da sah ich ihn liegen, mit dem Gesicht nach unten und unter sich das Gewehr. Er hatte blondes Haar. Der Kater ging zu ihm und leckte sein Gesicht, so wie er meins immer leckte, um mich aufzuwecken.
    Wer auch immer sie begraben hatte, er hatte einfach nur ein bißchen Dreck über sie geschaufelt, da, wo sie gefallen waren, und der Schnee hatte sie verhüllt, aber jetzt begann er zu schmelzen. Ich konnte sie nicht ganz sehen, bloß einen Fuß oder eine Hand, und ich wollte nicht auf sie treten, aber überall, wo ich hintrat, sackte ich bis zu den Leichen unter dem Schnee durch. Und die Katze lief einfach über sie hinweg.« Sie hatte fallengelassen, was von dem Veilchen übriggeblieben war, und blickte hinter mich zur Tür. »Sie lagen überall im Obstgarten und auf dem Rasen, bis hin zur Vordertreppe.«
    Ich hörte jemand die Treppe heruntertrampeln und bewegte mich, zum erstenmal an diesem Abend, als wäre ich wach. Ich griff hinter Annie und hob eine Handvoll Erde und zerrupfte Blätter vom Boden auf. Als Richard hereinkam, seinen Mantel über dem Arm, standen wir beide nach vorn gebeugt, die Köpfe zusammen, und sammelten die Scherben auf, und meine Hände waren so schmutzig wie ihre.
    Ich richtete mich mit einer Handvoll Erde und Tonscherben auf. »Habt ihr beide nun herausgefunden, was Lincolns Träume ausgelöst hat?« fragte ich.
    »Nein. Ich habe dir doch gesagt, daß ich ihm nicht weiterhelfen kann«, sagte Richard. Er blickte an mir vorbei Annie an. »Wir müssen gehen. Hol deinen Mantel.«
    »Ich werde ihn holen«, sagte ich und ging hinaus zur Garderobe.
    Broun kam die Treppe heruntergepoltert. »Ist er noch da?«
    Ich deutete zum Wintergarten. Er eilte hinein, und ich folgte ihm mit Annies Mantel. »Es tut mir ja so leid, Dr. Madison«, sagte Broun. »Diese verdammte Leute- Reporterinhat mich auf dem Weg nach unten aufgehalten. Ich wollte noch sagen…«
    »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und ich habe Sie Ihnen mitgeteilt«, sagte Richard steif.
    »Das stimmt«, sagte Broun. »Ich weiß das zu schätzen. Und vielleicht haben Sie recht, und Lincoln steuerte tatsächlich auf eine psychotische Krise zu, aber Sie müssen bedenken, daß es schon eine Reihe von Anschlägen auf sein Leben gegeben hatte, und mir scheint, daß es normal für ihn gewesen wäre…«
    Richard schlüpfte in den Mantel. »Sie möchten, daß ich Ihnen erkläre, die Träume seien normal gewesen? Nun, das kann ich nicht. Ein Traum wie dieser ist offensichtlich das Symptom einer schweren Neurose.«
    Ich blickte Annie an.
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