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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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schlimm werden.« Der Schnee fiel jetzt rascher und begann auf dem Gehsteig liegenzubleiben. Ich konnte mir vorstellen, wie sie beim Telefon in Richards Wohnzimmer stand und in den Schnee hinausschaute.
    »Es schneit bei uns nicht besonders stark«, sagte sie. »Ich würde gern mitkommen.«
    »Ich hol dich ab«, sagte ich. »Ich bin in ungefähr einer Stunde bei dir.«
    »Fahr nicht den ganzen Weg durch die Stadt. Es gibt gleich vor Arlington eine U-Bahn-Station. Wir treffen uns dort, in Ordnung?«
    »Okay«, sagte ich. »Ich bin in einer halben Stunde da.«
    Ich nahm eine Thermosflasche und goß den Rest von Brouns Frühstückskaffee hinein, um ihn mitzunehmen. Ich war die halbe Nacht auf gewesen, weil ich eine Antwort auf Annies Frage gesucht hatte, ob Lee eine Katze gehabt hatte. Es hatte weder im zweiten Band Freeman etwas gestanden, noch in Connellys Mann aus Stein. Ich war auf einen Brief von Lee an seine Tochter Mildred gestoßen, in dem von Baxter und Tom dem Kneifer die Rede war, aber beides waren Mildreds Katzen, und es war jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich, daß sie die zahlreichen Umzüge während des Krieges überstanden hatten. Robert E. Lee jr. hatte zu dem Brief die Anmerkung gemacht, daß sein Vater ›auf seine Art‹ Katzen gemocht hätte, das hieß dort, wo sie hingehörten, was darauf hinzudeuten schien, daß Lee letztendlich keine eigene Katze gehabt hatte. Nichts, was ich in dem Durcheinander von Brouns Büchern fand, enthielt einen Hinweis darauf, daß die Familie eine Katze gehabt hatte, als sie in Arlington wohnte. Ich hatte schließlich eine der Freiwilligen anrufen müssen, die Besichtigungen der Villa Arlington durchführten. Ich weckte sie aus einem tiefen Schlaf, doch selbst im halbwachen Zustand wußte sie die Antwort. »Es steht in den Briefen an Markie Williams«, sagte sie und erklärte mir, wo ich sie finden konnte.
    Sobald ich auf die Rock Creek Allee eingebogen war, verwandelte sich der Schnee in eine Mischung aus gleichen Teilen Regen und Schnee, die glatter war als jede ihrer Komponenten einzeln. Ich brauchte fast zwanzig Minuten, um am Lincoln Memorial vorbei und über die Brücke zu kommen.
    Annie wartete auf dem Gehsteig neben der Treppe zur U-Bahnstation und kuschelte sich in ihrem grauen Mantel vor dem Schneeregen. Sie trug graue Handschuhe, aber sie hatte nichts auf dem Kopf, und ihr helles Haar war naß vom Schnee.
    »Ich war schon einmal in diesem Unwetter, auf dem Rückweg von West Virginia«, sagte ich, als sie einstieg. Ich stellte die Wagenheizung höher. »Was hältst du davon, wenn wir die ganze Sache abblasen und irgendwo essen gehen?«
    »Nein«, sagte sie. »Ich will hinfahren.«
    »Okay«, sagte ich. »Wir werden allerdings nicht viel zu sehen bekommen.« Arlington war immer geöffnet, selbst an Tagen wie diesem. Es war schließlich ein Friedhof, und keine Touristenattraktion, aber was das Haus betraf, hatte ich so meine Zweifel.
    Der Schneeregen wurde immer heftiger. Ich konnte nicht einmal so weit wie bis zum Marinedenkmal sehen, geschweige denn über die Brücke. »Das bringt doch nichts«, sagte ich. »Warum machen wir nicht…«
    »Ich habe Richard gestern abend gefragt, ob er mich nicht nach Arlington rausbringen könnte. Auf dem Heimweg. Und heute morgen wieder. Er wollte nicht. Er meinte, ich würde unterdrückte Gefühle auf einen äußeren Gegenstand projizieren und mich gegen die Konfrontation mit einem Trauma sträuben, das so schrecklich sei, daß ich mir seine Existenz nicht eingestehen könne.«
    »Glaubst du das auch?« fragte ich.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie.
    »Wie oft hast du von den Soldaten in dem Obstgarten geträumt?«
    »Ich weiß es nicht genau. Ich träume diesen Traum jede Nacht, seit über einem Jahr.«
    »Seit über einem Jahr?« fragte ich entgeistert. »Dann bist du schon so lange am Schlafinstitut?«
    »Nein«, sagte sie. »Ich bin vor etwa zwei Monaten nach Washington gekommen. Mein Arzt hat mich an Dr. Stone überwiesen, weil ich das wäre, was man einen Leichtschläfer nennt. Ich wache andauernd auf.«
    »Dr. Stone?«
    »Er ist der Leiter des Instituts, aber er war in Kalifornien, und deshalb kam ich zu Richard. Ich blieb eine Woche im Institut, in der sie alle möglichen Tests machten, und dann sollte ich weiter ambulant behandelt werden, aber der Traum wurde noch schlimmer.«
    »Schlimmer? Wie das?«
    »Als ich anfing, diesen Traum zu träumen, konnte ich mich hinterher nicht an besonders viel erinnern. Der tote
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