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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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Soldat kam darin vor und der Schnee und der Apfelbaum, aber er war nicht sehr klar. Ich meine, er war nicht eigentlich verschwommen, aber entfernt, irgendwas in der Art. Und dann, zwei Wochen, nachdem ich ins Institut gekommen war, wurde er plötzlich klarer, und wenn ich aus ihm aufwachte, war ich so in Panik, daß ich nicht wußte, was ich tun sollte.« Ihre Hände in den grauen Handschuhen waren fest in ihrem Schoß zusammengepreßt.
    »Bist du ins Institut zurückgegangen?«
    »Nein.« Sie blickte auf ihre Hände hinab. »Ich rief Richard an und sagte ihm, daß ich Angst hätte, allein zu sein, und er sagte, ich sollte ein Taxi rufen und gleich rüberkommen, und daß ich bei ihm bleiben könnte.«
    Darauf hätte ich gewettet, dachte ich. »Du sagtest, der Traum wurde klarer? Du meinst, so wie wenn man eine Kamera scharfstellt?«
    »Nein, nicht genau. Der Traum selbst veränderte sich nicht. Er war einfach nur erschreckender. Und irgendwie klarer. Mir begannen Einzelheiten aufzufallen, wie die Nachricht auf dem Arm des Soldaten. Sie war immer schon dagewesen, aber ich hatte sie vorher einfach nicht bemerkt. Und mir fiel auf, daß der Apfelbaum blühte. Ich glaube, das hat er im ersten Traum nicht.«
    Die Scheibenwischer fingen an zu vereisen. Ich öffnete das Seitenfenster und langte nach vorn, um den Wischer gegen die Vorderscheibe zu schlagen. Ein schmaler Eisstreifen löste sich und glitt an der Scheibe hinab. »Was ist mit der Katze? War sie von Anfang an in dem Traum?«
    »Ja. Glaubst du, Richard hat recht damit, daß ich verrückt bin?«
    »Nein.« Ich steuerte sehr vorsichtig vom Bordstein wieder auf die Straße zurück.
    Ich konnte die geschwungene Mauer der Einfahrt erst erkennen, als wir sie beinahe erreicht hatten, und von der Villa Arlington sah ich überhaupt nichts. Meistens sieht man sie schon vom Einkaufszentrum die ganze Entfernung über den Potomac hinüber; mit ihren breiten Veranden und lederbraunen Säulen wirkt sie wie ein goldener griechischer Tempel, und nicht wie eine Plantage.
    »Robert E. Lee hatte eine Katze, nicht wahr?« sagte sie.
    »Ja«, sagte ich und lenkte auf das Eisentor zu, das zu dem Besucherzentrum führte, zeigte einer Wache im Regenmantel und mit plastikumhüllten Hut kurz den Ausweis vor, der es Broun erlaubte, auf den Friedhof zu fahren, anstatt auf dem Besucherparkplatz zu parken, und fuhr den Hügel hinauf bis zur Rückseite der Villa Arlington. Wir konnten durch den Schneeregen hindurch immer noch kaum mehr als die groben Umrisse des Gebäudes erkennen, selbst dann noch nicht, als ich den Wagen an seiner Rückseite neben dem Anbau geparkt hatte, der in einen Souvenirladen umgewandelt worden war, doch Annie sah das Haus gar nicht an. Sobald ich den Wagen geparkt hatte, stieg sie aus und ging nach vorne zum Garten, als wüßte sie genau, wohin sie sich wenden mußte.
    Ich folgte ihr und blinzelte durch den Schnee zum Haus hinüber, um zu sehen, ob es für Besucher geöffnet war. Ich konnte es nicht erkennen. Auf dem Parkplatz standen keine weiteren Wagen, und es führten keine Fußstapfen zum Haus, aber der Schnee fiel schnell genug, daß er sie überdeckt hätte haben können. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, würde sein, zur Vordertür zu gehen, doch Annie stand bereits vor dem ersten Grab am Rand des Gartens und suchte mit gesenktem Kopf auf dem nassen Grabstein nach dem Namen, als nähme sie den Schnee überhaupt nicht wahr.
    Ich ging hinüber und stellte mich neben sie. Der Schnee haftete noch nicht am Gras, von kleinen isolierten Klumpen abgesehen, die schmolzen und wieder gefroren und zwischen den Grashalmen Eisnetze ausspannten, aber der Wind hatte genug Schnee gegen die Grabsteine geweht, um sie beinahe unlesbar zu machen. Ich konnte den Namen auf dem ersten kaum erkennen.
    »John Goulding, Leutnant, Sechzehntes New Yorker Kavallerieregiment«, las Annie vor.
    »Das sind nicht die Soldaten, die ursprünglich hier begraben wurden«, sagte ich. »Das waren alles niedere Dienstgrade. Offiziere wurden auf dem Hügel vor der Villa begraben.«
    Der zweite Grabstein war mit Schnee bedeckt. Ich beugte mich vor und wischte ihn mit der Hand ab, wobei ich wünschte, ich hätte Handschuhe angehabt. »Siehst du? Gustave von Branson, Leutnant, Kompanie K, Drittes Freiwilligenregiment, Vermont. Leutnant von Branson wurde erst 1865 hier beigesetzt, nachdem Arlington in einen Nationalfriedhof umgewandelt worden war. Dann ließ Commander Meigs die Mannschaften
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