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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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hätten, wäre es diesem hier ähnlich gewesen.« Ich habe einige Passagen daraus in mein Notizbuch kopiert. Diese hier zum Beispiel: »Ich träume von einem gewaltsamen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf englischsprechenden, haarigen Beinen Schmetterlingen hinterherlaufen. Geben Sie mir eine Million – ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand.« Das war das Szenario, das er sich mit dreißig als mittelloser Emigrant auf dem Pflaster von New York sitzengelassen ausmalte – und bitteschön, dreißig Jahre später wird der Film gedreht. Er spielt darin die Rolle, von der er geträumt hatte: den Berufsrevolutionär, den Stadtguerillero, Lenin in seinem Panzerwagen.
    Ich sage ihm das. Er muss lachen, ein kurzes, trockenes Lachen ohne Liebenswürdigkeit, bei dem er durch die Nasenlöcher schnaubt. »Stimmt«, gibt er zu. »Was mein Leben angeht, habe ich mein Programm durchgezogen.« Aber er führt aus: Es sei jetzt nicht mehr der richtige Moment für einen bewaffneten Aufstand. Er träume nicht mehr von einem Gewaltakt, sondern eher von einer orangen Revolution, wie sie gerade in der Ukraine stattfand. Einer friedlichen, demokratischen Revolution, die der Kreml seiner Meinung nach mehr als alles andere fürchtet und die er bereit ist, mit allen Mitteln niederzuschlagen. Aus diesem Grund führt er ein Leben als Verfolgter. Vor ein paar Jahren hat man ihn mit Baseballschlägern fertiggemacht. Und noch vor Kurzem ist er knapp einem Attentat entgangen. Sein Name rangiert auf den Listen der »Feinde Russlands« ganz oben, das heißt der Todeskandidaten, deren Adressen und Telefonnummern von inoffiziellen Handlangern der Regierung weitergereicht werden und die man auswählt, um sie öffentlich an den Pranger zu stellen. Die anderen auf diesen Listen waren Politkowskaja, die mit einer Pumpgun kaltgemacht wurde, der Ex- FSB -Offizier Litwinenko, den man mit Polonium vergiftete, nachdem er die kriminellen Machenschaften seiner Behörde enthüllt hatte, und der Milliardär Chodorkowski, der heute in Sibirien inhaftiert ist, weil er sich in die Politik eingemischt hat. Und der nächste sei er, Limonow.
    Am nächsten Tag hält er eine Pressekonferenz mit Kasparow. Im Saal erkenne ich die meisten der Aktivisten wieder, denen ich während meiner Reportage über Politkowskaja begegnet war, aber es sind auch ziemlich viele Journalisten da, vor allem aus dem Ausland. Manche wirken sehr aufgeregt, wie dieses schwedische Team, das keinen Kurzbericht machen will, sondern eine große Dokumentation mit drei Monaten Dreharbeiten über das, was sie der unaufhaltsame Aufstieg der Drugaja Rossija -Bewegung zu sein hoffen. Offenbar sind die Schweden davon felsenfest überzeugt und rechnen damit, ihren Film sehr teuer in alle Welt zu verkaufen, wenn Kasparow und Limonow erst einmal an der Macht sind.
    Mächtige Schultern, ein warmes Lächeln – ein sympathischer Typ, dieser armenische Jude: Als Kasparow und Limonow die Tribüne besteigen, wirkt der ehemalige Schachchampion imposanter als letzterer, der mit seinem Spitzbart und der Brille eher die Rolle des kaltblütigen Strategen im Schatten des geborenen Leaders zu spielen scheint. Auch ist es Kasparow, der entschlossen loslegt und erklärt, warum die Präsidentschaftswahlen, die im kommenden Jahr – 2008 – bevorstehen, ein historisches Ereignis seien. Putin beende seine zweite Amtszeit, die Verfassung verbiete ihm eine dritte, und er habe rings um ihn herum alle so erfolgreich weggebissen, dass kein Kandidat aus den Reihen der Macht in Sichtweite ist. Zum ersten Mal in der Geschichte Russlands habe eine demokratische Opposition eine reale Chance. Da die Medien mundtot gemacht würden, wisse man nicht, inwieweit die Russen genug von den Oligarchen, der Korruption und der Allmacht des FSB haben, aber er, Kasparow, wisse es. Er redet gewandt, seine Stimme hat das Timbre eines Cellos, und ich beginne mir einzubilden, dass die Schweden möglicherweise recht haben. Ich möchte gern glauben, dass ich etwas Großem, Außergewöhnlichem beiwohne, etwas wie den Anfängen der Solidarność . In diesem Moment feixt mein Nachbar, ein englischer Journalist, und flüstert mir mit gingeschwängertem Atem zu: » Bullshit . Die Russen verehren Putin und verstehen nicht, warum eine beschissene Verfassung ihnen verbieten soll, einen so guten Präsidenten dreimal hintereinander zu wählen. Aber vergessen Sie eines
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