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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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ich Russisch oder Französisch sprechen? Ihn duzen oder siezen? Ich erinnere mich an diese Unschlüssigkeit, doch seltsamerweise nicht an meinen ersten Satz, als er gleich nach dem ersten Klingelzeichen und noch vor dem zweiten Rufton abhob. Wahrscheinlich nannte ich meinen Namen, und ohne nur eine Sekunde zu zögern antwortete er: »Ah, Emmanuel. Wie geht’s?« Überrumpelt nuschelte ich: »Gut«. Wir kannten uns nicht näher und hatten uns seit fünfzehn Jahren nicht gesehen, ich glaubte ihn erinnern zu müssen, wer ich sei. Doch im selben Augenblick fuhr er fort: »Sie waren letztes Jahr bei der Versammlung am Dubrowka-Theater, nicht?«
    Ich war sprachlos. Aus hundert Meter Entfernung hatte ich ihn lange angestarrt, doch unsere Blicke hatten sich nur einen kurzen Moment lang gekreuzt, und seinerseits hatte nichts, weder ein Innehalten noch ein Wimpernzucken, darauf hingedeutet, dass er mich erkannt hatte. Als ich mich später von meiner Verblüffung erholt hatte, dachte ich, Sascha Iwanow, unser Verleger-Freund, habe ihm vielleicht meinen Anruf angekündigt gehabt, aber ich hatte Sascha Iwanow nichts von meiner Teilnahme an der Dubrowka-Veranstaltung erzählt, das Rätsel blieb also ungelöst. In der Folgezeit wurde mir klar, dass es sich nicht um ein Rätsel handelte, sondern dass Limonow ein ungeheures Gedächtnis besaß und eine nicht weniger ungeheure Selbstkontrolle. Ich sagte ihm, dass ich einen längeren Artikel über ihn schreiben wolle, und er willigte umstandslos ein, sich zwei Wochen lang von mir begleiten zu lassen – »außer wenn sie mich wieder einlochen«, fügte er hinzu.
    3
    Zwei junge, kahlrasierte Muskelprotze in Jeans, schwarzen Bomberjacken und Springerstiefeln holen mich ab, um mich zu ihrem Chef zu bringen. In einem schwarzen Wolga mit getönten Scheiben fahren wir durch Moskau, und ich rechne schon beinahe damit, dass sie mir die Augen verbinden, doch nein, meine Schutzengel begnügen sich damit, eilig den Hof des Wohnhauses, dann das Treppenhaus und schließlich den Treppenabsatz zu inspizieren, der zu einer kleinen, dunklen Wohnung führt, die wie eine Hausbesetzerbleibe eingerichtet ist und wo sich zwei weitere Skins mit Zigarettenrauchen die Zeit totschlagen. Eduard pendelt zwischen drei oder vier Wohnsitzen in Moskau, erklärt mir einer der beiden, und er wechselt sie so oft wie möglich, verbietet sich wiederkehrende Uhrzeiten und tut niemals einen Schritt ohne Bodyguards – Mitgliedern seiner Partei.
    Meine Reportage fängt gut an, sage ich mir, während man mich warten lässt: geheime Verstecke, ein Leben im Untergrund, all das ist äußerst romantisch. Es fällt mir nur schwer, mich zwischen zwei Versionen von Romantik zu entscheiden: Terrorismus oder Widerstandsnetz, Carlos oder Jean Moulin – solange die offizielle Version nicht feststeht, haben beide jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten. Ich frage mich auch, was Limonow seinerseits von meinem Besuch erwartet. Wird er mir misstrauen, weil die wenigen Portraits, die westliche Journalisten von ihm zeichneten, ihn zu einem gebrannten Kind gemacht haben, oder setzt er auf mich zum Zweck seiner Ehrenrettung? Ich bin ja selbst unentschieden. Es ist seltsam, sich auf eine Begegnung mit jemandem vorzubereiten, über den man vorhat zu schreiben, und dabei so wenig zu wissen, wie man es mit ihm halten will.
    In dem spartanischen Büro mit geschlossenen Vorhängen, in das man mich schließlich führt, steht er da, in Jeans und schwarzem Pullover. Ein Händedruck, kein Lächeln. Er ist auf der Hut. In Paris duzten wir einander, aber am Telefon hatte er »Sie« gesagt, wir bleiben also beim »Sie«. Trotz der fehlenden Praxis spricht er besser Französisch als ich Russisch, also gut, dann Französisch. Früher machte er täglich eine Stunde lang Liegestütze und Hanteltraining, das scheint er beibehalten zu haben, denn mit fünfundsechzig Jahren ist er immer noch schlank: ein flacher Bauch, eine jugendliche Gestalt, die glatte, matte Haut eines Mongolen; aber er trägt jetzt einen Oberlippen- und einen Spitzbart, was ihm ein wenig das Aussehen des gealterten d’Artagnan in Zwanzig Jahre später und viel von einem bolschewistischen Kommissar und insbesondere von Trotzki gibt – nur dass Trotzki meines Wissens nach kein Bodybuilding trieb.
    Im Flugzeug hatte ich eines seiner besten Bücher wiedergelesen, das Tagebuch eines Versagers , dessen Klappentext Farbe bekennt: »Wenn Charles Manson oder Lee Harvey Oswald Tagebuch geführt
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