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Liebeskind

Liebeskind

Titel: Liebeskind
Autoren: C Westendorf
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keine Spur von Seniorengruppen oder Schulklassen. Keine Spur von Reisefieber. Die Leute sahen so gar nicht aus, als stünden sie kurz vor Beginn einer Urlaubsfahrt. Die Haltestelle Travemünde war nicht zu entdecken. Wie sollte erAngela nur in diesem Gewimmel finden? Rainer sah sich um, er brauchte einen guten Überblick. Als er den Bahnhof fast umrundet hatte, sah er in Richtung des Brachgeländes, dort, wo früher das Automuseum gewesen war, zwei kleine Bushaltestellen, die die Zeit überdauert hatten. Lange Sonntagnachmittage hatte er damals mit seinem Vater in diesem Museum verbracht. Schon als Junge war er an den glänzenden Oberflächen der Oldtimer vorbeigestrichen. Er hatte verchromte Spiegel und Zierleisten bewundert und sich vorgenommen, irgendwann auch einmal mindestens eine dieser stolzen Karossen zu besitzen. Auf jeden Fall aber ein Auto, an dessen Scheiben sich die Nachbarskinder ihre Nasen platt drücken würden. Rainer entschied, zu der kleinen Haltestelle hinüberzugehen, nicht nur weil er den Ort von früher kannte. Sondern weil Angela, wenn sie nach ihm suchte, ihn sofort auf dieser beleuchteten Insel inmitten der Dunkelheit ausmachen würde.
    Das Neonlicht flackerte, als Rainer sich auf die Bank setzte. In der spiegelnden Fläche der gegenüberliegenden Plexiglaswand überprüfte er kurz den Sitz seines Mantels, dann holte er die Zeitung hervor. Hier, nur einen Steinwurf vom geschäftigen Bahnhofstreiben entfernt, war es menschenleer. Er beobachtete einen einsamen Penner, der am Besenbinderhof entlang in Richtung Hauptbahnhof davontrottete. Rainer vertiefte sich in seinen Artikel über den VFL-Maschen. Es ging um die erste Herrenmannschaft, sie hatten bisher eine sehr gute Saison gespielt, und der Bericht machte ihm Lust, wieder dabei zu sein. Auf dem daneben abgedruckten Foto erkannte er auf Anhieb drei seiner früheren Fußballkumpel wieder. Wenn Angela also unbedingt im Landkreis bleiben wollte, vielleicht ... Er konnte sich plötzlich vorstellen, wieder hier zu leben.

    Ein Geräusch ließ ihn von seiner Zeitung aufsehen. Es war wie ein Windhauch gewesen, der einen streift, wenn ein Mensch direkt neben einem seinen Mantel überwirft, oder doch mehr wie eine leichte Bewegung, die jemand macht, wenn er seinen Fahrschein aus der Tasche holt. Egal, irgendetwas, was er gehört, gespürt oder in der gegenüberliegenden Plexiglaswand gesehen hatte, hatte ihn aufmerksam gemacht. Für einen Moment erinnerte sich Rainer an eine Szene aus einem alten Film – „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ oder so ähnlich. Donald Sutherland, der Held, hatte auch einen solchen Schatten vorbeihuschen sehen. Auf der Suche nach seinem verlorenen Kind war er durch die Gassen der Altstadt von Venedig geirrt, und hinter jeder Ecke war es ihm erschienen, als ob er verfolgt würde. Mehr von einem Phantom als von einem realen Menschen aus Fleisch und Blut. Dann, ein, zwei Einstellungen später, war der Angriff erfolgt, und innerhalb von Sekunden hatte Donald auf dem Kopfsteinpflaster in seinem Blut gelegen und geröchelt. Dabei war er ein so sympathischer Kerl gewesen. Am Ende des Films hatte sich Rainer jedenfalls sorgfältig die Augen trocken gewischt, damit nicht gleich jeder im Kino sehen konnte, dass er geheult hatte. Jetzt hätte er einiges dafür gegeben, nicht allein zu sein. Wäre in diesem Moment ein Penner aufgetaucht, er hätte ihm die Füße geküsst und ihm Schnaps bis zum Abwinken besorgt.
    Hastig legte Rainer die Zeitung zusammen. Er war schon dabei, wieder in Richtung der Lichter am ZOB zu gehen, als er zum zweiten Mal eine Bewegung wahrnahm, die sich in der gegenüberliegenden Plexiglaswand spiegelte. Fast als wäre die Person, die sie verursacht hatte, jetzt direkt hinter ihm. Er ließ die Zeitung liegen und sah sich um. Aber dawar niemand, Rainer war allein. Doch durch die andere Plexiglaswand, an der er bis eben mit dem Rücken gelehnt hatte, sah Rainer kurz darauf wieder für einen Moment etwas von rechts nach links über den Rasen huschen. Unglaublich schnell hatte sich der Schatten bewegt, das konnte niemals ein Mensch gewesen sein. Aber was dann? Vielleicht das Scheinwerferlicht irgendeines Fahrzeugs, das in der Sackgasse dort hinten am Ende der Rasenfläche gewendet hatte? Nein, was er gesehen hatte, war definitiv ein Schatten gewesen, kein verirrtes Scheinwerferlicht. Und darüber hinaus war ihm irgendetwas an der Bewegung bekannt vorgekommen. Nicht die Gestalt des Schattens an sich, schließlich
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