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Liebeskind

Liebeskind

Titel: Liebeskind
Autoren: C Westendorf
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sieht sie denn aus?“, murmelte Paul Herold gerade aus den Tiefen des Wohnzimmers hervor.
    „Sie ist in meinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Eine auffällige Frau, sehr hübsch.“
    „Und wie müssen wir uns das bildlich vorstellen?“
    Paul Herold war an den Esstisch zurückgekommen und sah seinen Sohn erwartungsvoll an, Hilde musterte Rainer irritiert.
    „Sie hat die schönsten roten Haare, die ich jemals gesehen habe.“ Rainer zeigte mit seiner Hand bis zur Hüfte. „Ungefähr so lang. Sie ist groß, beinahe so groß wie ich, und schlank, aber trotzdem ist ihre Figur sehr weiblich. Und sie hat sich angeregt mit dem Wirt unterhalten, deshalb bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, euch nach ihr zu fragen. Sie sieht nämlich eigentlich nicht so aus, als ob sie von hier wäre.“
    Hilde Herold versuchte, ihren Ärger über den letzten Satz ihres Sohnes hinunterschlucken. Schon als Junge war er überheblich gewesen, oft hatte er sich in dem Bewusstsein, mehr zu wissen als andere, über seine Mitschüler lustig gemacht. Aber sie hatte wohl vergeblich gehofft, dass ihm das Leben diese schlechte Eigenschaft inzwischen abgewöhnt hatte.

    Elsa zog die Gardine am Fenster ihres Hotelzimmers einen Spalt breit zur Seite und schaute in den trüben Wintermorgen. Der Kragen ihres Pullovers fühlte sich nass an. Sie musste schon eine ganze Weile geweint haben, ohne es zu bemerken. Warum hatte sie nur in diesem Dorf Halt gemacht? Seine Bewohner lebten noch immer beschaulich. So, als hätten sie niemals einen der Ihren auf dem Gewissen gehabt. Doch Elsa wusste es besser. Sie hatte überlebt, auch wenn sie heute eine andere war. Niemand würde sie wiedererkennen. Mittlerweile war sie eine attraktive Frau, eine Frau, die man nicht übersah. Allein – glauben konnte Elsa das nie.
    Zuerst hatte es ihr Spaß gemacht, in dieser Kneipe bewundert zu werden. Die Verwandlung schien perfekt zu sein, als nicht einmal Alfred sie erkannt hatte. Genauso wenig wie Elfi, das Schaf.
    Doch welch grausamer Zufall war es gewesen, an diesem Abend auf Rainer Herold zu treffen. Seitdem kam es ihr so vor, als habe sie lange Jahre in einem Kokon gelebt. Abgeschirmt und begrenzt durch dicke Wände in ihrer eigenen Welt. In einer Welt ohne Gefühl. Außengeräusche, Gesichter, Lachen und Weinen, all das war nur dumpf, verschleiert oder schemenhaft zu ihr durchgedrungen. Sie war wie in Watte gepackt gewesen, und bis gestern hatte sie diese Tatsache nicht einmal wahrgenommen. Die widerliche Fratze von Rainer war das erste Gesicht, das sie wieder klar gesehen hatte, seit damals. Jetzt schien ihr der Kokon zu klein zu werden, schon fing er an, auseinanderzuplatzen. Dahinter kam ihr Mädchengesicht zum Vorschein. Das Mädchen Elsa brauchte Raum.
    Sie musste auf der Stelle von hier verschwinden, sonst würde sie sich am Ende noch verraten. Wie war sie nurdarauf gekommen, Rainer zu küssen? Widerlich, wie scharf dieser Kerl auf sie gewesen war. Früher hatte Elsa sich nach nichts mehr gesehnt als nach seiner Aufmerksamkeit. Vor mehr als zwanzig Jahren war Rainer einer der wichtigsten Menschen für sie gewesen, der Freund ihres Liebsten. Doch wenn sie ihn sich heute vorstellte, den dicklichen, untrainierten Körper, das gockelhafte Gehabe, so erschien es ihr beinahe lächerlich, dass er einmal eine so große Bedeutung für sie gehabt hatte. Elsa hätte sich beim Gedanken an den gestrigen Abend noch im Nachhinein übergeben mögen, und jetzt war ihr tatsächlich schlecht. Sie kramte ein Tütchen mit einem Medikament gegen Sodbrennen aus ihrer Tasche hervor und knetete es fest zwischen den Fingern. Während sie den Inhalt des Tütchens in ihre Kehle laufen ließ, ermahnte sie sich, Rainer so schnell wie möglich zu vergessen. Elsa hatte genug gelitten. Ihre Vergangenheit war zusammen mit dem Mädchen Elsa gestorben, und sie hatte hart dafür gekämpft. Ein dünnes Rinnsal der weißen Emulsion rann von ihrem Kinn den Hals hinab, gedankenversunken wischte sie es ab. Und wenn es nun doch einen anderen Weg gab? Wenn sie selbst versuchte, das zu vollbringen, was keinem Arzt oder Psychologen in all den Jahren gelungen war? Was, wenn sie sich endlich an diesen Leuten rächte, die für alles verantwortlich waren? Vielleicht würde dann endlich alles gut werden. Während sie so dasaß und in die Wolken starrte, kam Elsa ein Plan in den Sinn. So einfach und genial, dass sie ernsthaft darüber nachzudenken begann.
    Als Kommissarin Anna Greve an diesem
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