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LIEBES LEBEN

LIEBES LEBEN

Titel: LIEBES LEBEN
Autoren: Kristin Billerbeck
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eigentlich jemand, um dich zu erlösen?«
    Meine Mutter kommt natürlich wieder einmal im unpassendsten Moment herein. »Ashley, es gehört sich nicht, so verletzend zu deinem Bruder zu sein.« Meine Mutter hat Dave nie erwischt, wenn er etwas Beleidigendes gesagt hat. »Ashley hätte niemals so über andere geredet.«
    Ashley ist Ashley Wilkes in Vom Winde verweht und mein Namensvetter. Warum meine Mutter auf die Idee kam, mich nach diesem Schleimer zu nennen statt nach Rhett oder Scarlett, ist die ganz große Frage. Aber es erklärt ihre unerschütterliche Hingabe an Dave, der Ashleys hoffnungslose Art im Überfluss besitzt. Ich vermute, zu viel Witz ist gefährlich, und meine Mutter, Mary Stockingdale, konnte noch nie mit Konflikten umgehen. Ich sollte mich wahrscheinlich glücklich schätzen, dass sie noch nicht verlangt hat, dass ich einen meiner Cousins heirate. Die Wilkes tun das schließlich immer.
    »Mama, hast du schon gehört, dass die Mieten jetzt runtergehen?«, frage ich sie mit einem Seitenblick auf meinen Bruder und ziehe dabei fast unmerklich die Mundwinkel nach oben. Dave kneift die Augen zusammen, als wolle er mir drohen. »Dave könnte sich vielleicht bald eine eigene Wohnung suchen.«
    »Ashley, du weißt doch, dass dein Bruder im Dienstleistungssektor arbeitet. Er wird niemals so viel verdienen wie eine Patentanwältin, weil er anderen Menschen hilft.« Dabei klopft sie mir auf die Schulter und stellt die Grütze auf den Tisch. Dienstleistungssektor. Als sei es eine Dienstleistung, aus purem Spaß einen Mercedes zu schneiden.
    Dave grinst höhnisch. »Manche Menschen haben eben ihr Leben gelebt, während andere die wunderschönen Sommertage damit vergeudet haben, die Schulbank zu drücken.«
    »Schulbank? Das klingt, als sei das Jurastudium wie die Grundschule. Aber mehr kennst du natürlich nicht, stimmt’s?«
    »Ich bin in die Schule des Lebens gegangen. Ich kann anderen erklären, was ich mache.«
    »David! Deine Schwester hat schwer gearbeitet, um ihren Job zu bekommen. Du solltest stolz auf sie sein.« Ich kann mein Erstaunen darüber, dass sie mich verteidigt, kaum verbergen. Ihre Zurechtweisung bringt Dave zumindest vorübergehend zum Schweigen. »Hank!«, ruft meine Mutter. »Komm und sprich das Tischgebet, damit wir mit dem Essen anfangen können!«
    »Es ist Nachspielzeit! Fangt schon mal ohne mich an!«, ruft er zurück. Beten ist nicht gerade die Stärke meines Vaters. Ich weiß es zu schätzen, dass sie sich diese Mühe machen, wenn ich zum Essen komme, aber das letzte Mal, dass mein Vater eine Kirche mit seiner Anwesenheit beehrt hat, war bei seiner Hochzeit. Seine Gebete bestehen gewöhnlich aus diesen Reimen, die wie irische Limericks klingen.
    Meine Mutter lächelt verlegen, überlegt, ob sie versuchen sollte zu beten, entscheidet sich dann aber dagegen. »Dann wollen wir essen.« Sie setzt sich. »Ashley, erzähl von deiner Arbeit. Hast du schon irgendwelche neuen Dokumente verfasst?«
    »Patente, Mama. Ja, ich schreibe jeden Monat etwa drei, aber im Moment sind es sechs.«
    »Das ist schön. Hank! Komm jetzt, bevor dein Essen kalt wird!« Sie dreht sich wieder zu mir, und ich stelle nicht zum ersten Mal fest, dass meine Mutter eine wirklich hübsche Frau ist. Sie hat fast keine Falten, und ihre Haut ist geschmeidig wie eine Aprikose. In ihren grauen Augen liegt trotz der blassen Farbe ein gewisser Funke. Warum sie sich all diese Jahre mit meinem Vater abgefunden hat, ist mir ein Rätsel. Allerdings hat er ihr erlaubt, mich Ashley Wilkes Stockingdale zu nennen. Sie hatte also vielleicht mehr Freiheiten, als ich denke.
    Mein Vater kommt aus dem Wohnzimmer geschlurft und macht den Reißverschluss seiner Hose zu. Warum es zu viel verlangt sein soll, dass er mit geschlossenem Reißverschluss fernsieht, werde ich nie verstehen. Ich würde ihm ja weitere Hosen kaufen, aber sie hängen ohnehin schon an ihm herunter wie die Falten eines Rhinozerosses.
    Er schaut zu meiner Mutter und streicht sich mit der Hand über seine größer werdende Glatze. »Konntet ihr nicht noch fünf Minuten warten?«
    »Heute ist der Geburtstag deiner Tochter.«
    Papa sieht mich an und nickt mir zu. »Herzlichen Glückwunsch.«
    »Danke.« Das war’s. Das war die längste Unterhaltung, die wir im ganzen Jahr führen werden.
    »Verabredest du dich denn mit irgendjemand, mein Schatz?«, fragt meine Mutter mit hoffnungsvoll aufgerissenen Augen.
    Dave verschluckt sich fast an seinen Kartoffeln, aber er hält
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