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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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Gymnastiktradition vom Turnvater Jahn und Daniel Gottlieb Schreber bis hin zu Otto Jäger und Moritz Kloss sie bewundernd beschwört und dessen Aufstieg zu wilhelminischer Reichsherrlichkeit sie vor allem auf diese zurückführt. Dass sie beim internationalen Gymnastikfest in Frankfurt nicht dabei sein kann, schmerzt sie zutiefst, und die Berichte in der Tagespresse lassen es ihr als rauschhaftes Fest der Wiedergeburt der ganzen Menschheit unter einer Kolossalstatue der Germania erscheinen. Vor dem Hintergrund solch ekstatischer Überhöhungen ins Utopische kann ihr eigener Kampf im spießbürgerlichen Turin für die Durchsetzung der Gymnastik an Mädchenschulen und eine entsprechende Würdigung der Gymnastik nur ins komische Hintertreffen geraten.
    Für eine solche Komik der Reduktion des Großen ins Kleine sorgt ja schon der Schauplatz des Geschehens: Die Größe Turins und des Neuen Italien wird zwar immer wieder sprachlich evoziert, zu sehen ist aber hauptsächlich die kleine Welt eines gutbürgerlichen Mietshauses in der Via dei Mercanti; ebenso ist von der Gymnastik und den Turnhallen weit mehr die Rede, als dass sie wirklich gezeigt würden. Die drei Stockwerke des Hauses, das dem Rentier und «Commendatore» Celzani gehört und von seinem Neffen Don Celzani als seinem Sekretär verwaltet wird, bewohnen – von unten nach oben – (1) die Familie des Ingenieurs Ginoni und ein Paar ältlicher, unverheirateter Betschwestern; (2) Celzani Senior und Junior und der allein lebende alte Gymnasialprofessor Padalocchi; (3) die beiden Volksschul- und Turnlehrerinnen Pedani und Zibelli und der Gymnastiklehrer und -propagator Fassi mit seiner Familie. Dass sie fast ausnahmslos nur mit ihrem Familiennamen bezeichnet werden, entspricht ganz dem bürgerlichen bon ton Turins unter König Umberto I; dass unter ihnen das Pädagogische und die Gymnastik so grassiert, ist der früheren Tätigkeit des Hausbesitzers als Vizeassessor der städtischen Schulen geschuldet: Sein anhaltendes Interesse am Unterricht, und am Gymnastikunterricht insbesondere, lässt ihn seine Wohnungen bevorzugt Pädagogen günstig zur Verfügung stellen.
    Die verschiedenen Einstellungen zur Gymnastik werden damit zur zentralen Achse, um die sich alle Figuren der Erzählung gruppieren und alle ihre Interaktionen drehen. Die beiden Jungfern lehnen den weiblichen Körperkult schon als fromme Katholikinnen moralisch ab. Ingenieur Ginoni hält mehr vom Sachunterricht und macht sich über den theoretischen und praktischen Eifer der Pedani lustig, während sein Sohn Alfred als passionierter Radsportler der Gymnastik – und vor allem der athletisch wohlgeformten Gymnastin Pedani! – sehr viel näher steht. Professor Padalocchi, Klassischer Philologe seines Zeichens, bedient sich der gymnastischen Ratschläge der Hausgenossin zumindest zur Linderung seiner Altersbeschwerden, und der unsportliche Commendatore erfreut sich in voyeuristischer Alterslust an der Schönheit bewegter Mädchenkörper in Kleidern, die immer auch enthüllen, was sonst keusch verborgen bleibt. In dieser Hinsicht ist sein Neffe ihm nicht unähnlich, auch wenn dessen klerikale Vergangenheit als Priesterzögling seine Schaulust noch pikanter macht und ihn alsbald in heißer Leidenschaft für Pedani, diese Artemis der Gymnastik, entflammen lässt. Gerade dafür aber hat – im Gegensatz auch zu seiner eifersüchtigen Frau – der achtunddreißigjährige Großmeister der Gymnastik, Fassi, gar kein Auge. Sein professioneller Blick reduziert Pedanis körperliche Reize auf «die vollkommensten Proportionen des Knochenbaus», die er je gesehen habe, und auf «ein Wunderwerk von einem Brustkorb», und seine Beziehung zu ihr bleibt die beruflicher Kooperation und zunehmender Konkurrenz. Beide sind enthusiastische Propagandisten der Gymnastik, aber wo es ihm vor allem um den gesellschaftlichen Status und nicht zuletzt auch das Gehalt geht, kämpft sie in heroischer Uneigennützigkeit für die Anerkennung der Gymnastik als Allheilmittel aller individuellen und gesellschaftlichen Probleme und für die richtige, und das heißt für sie: die wissenschaftlich fundierte Form der Gymnastik auch für Mädchen und Frauen. Ihre Wohnungsgenossin Zibelli ist da wesentlich weniger engagiert, und dies schon deshalb, weil sich die bereits Sechsunddreißigjährige in ihrer Torschlusspanik immer wieder Männergeschichten einbildet, die sie ablenken, was regelmäßig ihre zärtliche Zuneigung zur Pedani abkühlt, der
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