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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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geschrieben, um seine Steuerschulden zu tilgen – glänzt gerade mit dem, was dem Erfolgsroman fehlt: Humor, Komik und kritische Distanz. Es setzt zwar die schulische und schulpolitische Thematik von Cuore und zahlreichen anderen Erzählungen De Amicis’ fort, dies nun aber fokussiert auf einen im späten 19. Jahrhundert heftig umkämpften Teilaspekt: die Leibeserziehung, insbesondere die Gymnastik für Mädchen und Frauen. Diese hat die Protagonistin, die siebenundzwanzigjährige Volksschul- und Turnlehrerin Maria Pedani, zur alles bestimmenden Mission ihres Lebens gemacht, und um sie kreisen alle ihre Gedanken und Reden. Für Liebe und zartere Gefühle scheint im Leben dieser athletischen Walküre von burschikoser Schönheit kein Platz zu sein. Gerade darin aber liegt der Ansatzpunkt einer Romanze, die sich als Komödie der Anziehungskraft der Gegensätze und mangelnder Selbsterkenntnis entfaltet. Am Schluss ereilt sie die Liebe, und sie ereilt sie über den unwahrscheinlichsten aller Liebhaber, den gehemmten ehemaligen Priesterseminaristen, den ergebenen Privatsekretär seines Onkels, den gänzlich unsportlichen «Don» Celzani. Der Diskurs der Gymnastik, der im Für und Wider der Stimmen ihrer Propagatoren und Gegner weite Strecken des Romans beherrscht, wird damit immer wieder durch die Romanze und ihre komödienhaften Verwicklungen aufgebrochen und ironisch relativiert. So gelingt es De Amicis hier wie in keinem anderem seiner Romane – auch nicht im groß angelegten Bildungsroman Primo Maggio («Erster Mai»), an dem er zur selben Zeit arbeitete und in dem er sein «Coming-Out» als Sozialist dokumentierte –, ideologische Diskurse mit einer Liebesgeschichte und dem Lachen der Komödie zu verbinden.
    Schauplatz des Geschehens ist Turin, das Turin De Amicis’, die Mitte seines schriftstellerischen Lebens, Hauptstadt der risorgimentalen Bewegung, Stammsitz der Könige des 1861 ausgerufenen italienischen Königreichs und Sitz des ersten Parlaments des Nuova Italia , bedeutendes wirtschaftliches und geistiges Zentrum – und Hauptstadt der italienischen Turn- und Gymnastikbewegung. Hier hatte schon 1844 der Züricher Pädagoge Rudolf Obermann, dessen Lehren Pedanis Wohnungsgenossin Zibelli anhängt, die Società Ginnastica Torinese gegründet, den ersten Turnverein Italiens überhaupt; hier hatte Emilio Baumann, bewundertes Vorbild der Pedani, bei Obermann studiert; hier erschien der Nuovo Agone , eine der zehn Gymnastikzeitschriften Italiens, die sie begierig liest und mit denen sie eifrig korrespondiert – und hier hielt De Amicis im August 1891 einen Vortrag über die Leibeserziehung, der bereits alle Argumente für und wider das neue Schulfach enthält, wie sie auch im Roman gegeneinander ausgespielt werden. Mit Turin als Schauplatz setzt De Amicis daher einen deutlichen politischen Akzent, der die Gymnastik mit dem nationalen Aufbruch verbindet: Sie trage entscheidend zur Körperertüchtigung eines neuen, gesunden und starken italienischen Volks, der Mütter und Kinder ebenso wie der Männer, und damit auch zur gesteigerten Wehrhaftigkeit des neuen Staates bei. Dieser Zusammenhang mit den nationalliberalen Traditionen des Neuen Italien wird am Ende noch einmal stark herausgestellt, wenn Pedani ihren größten Triumph als Propagandistin der Gymnastik auf einem Kongress im Turiner Palazzo Carignano feiert: Hier hatte sich 1848 die Abgeordnetenkammer des «Subalpinen Parlaments» konstituiert; hier versammelte sich das Parlament nach der Reichsgründung 1861 , bevor es 1864 seinen Sitz nach Florenz und dann nach Rom verlagerte – und hier befindet sich heute die nationale Gedenkstädte des «Museo del Risorgimento». In einem symbolisch so aufgeladenen Raum ist der Körper und seine Ertüchtigung alles andere als eine Privatsache: Er wird zum Politikum.
    Als Politikum nahm sich auch der neue Staat der Gymnastik an und machte sie schon 1878 auf Anregung des ersten und mehrmaligen Ministers für Volksbildung, Francesco De Sanctis, zum obligatorischen Schulfach. Dabei spielten außenpolitische Erwägungen eine wichtige Rolle: Das neu vereinte Italien auf seinem Weg von der europäischen Mittel- zur Großmacht wollte auch auf diesem Gebiet mit den anderen Nationen Europas konkurrieren und blickte daher immer auch in einer Minderwertigkeitskomplexen geschuldeten Großmannssucht auf die Nachbarn. Entsprechend nimmt Pedani wiederholt Maß am Ausland, vor allem an Deutschland, dessen große Turn- und
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