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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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einer begeisterten Priesterin. Und man spürte ihre ganze Seele in dieser ehrlichen Beredsamkeit, man ahnte ihr ganzes, einer einzigen Idee geweihtes Leben, eine Jugend, die wie ein langes, strenges Heranreifen war, losgelöst von Sinnlichkeit, jeder Art von gefühlsmäßiger oder schulischer Affektiertheit abhold, schlicht in Sitten und Benehmen, geläutert und gekräftigt von der ständigen Übung der physischen Kräfte, deren sichtbare Auswirkung ihre blühende Gesundheit, ihr klarer Geist und ihr geradliniges und kühnes Wesen waren. Und als sie im letzten Teil ihrer Rede die Gestalt des alten August Ravenstein beschwor, Begründer des ersten Turnvereins seines Volkes, gefolgt von der Reihe großer deutscher Gymnasiarchen, Wohltäter für Millionen Kinder, hochverdient um die Macht und den Ruhm Deutschlands, brach noch einmal tosender Beifall los, der sie und die ganze Versammlung erschütterte und sie ein Weilchen unterbrach, während ihre Kolleginnen sich um sie drängten, ihre Kleider und Hände berührten und sie mit Glückwünschen überschütteten.
    Da kam sie, unter zunehmendem Beifall, zum Ende. Auf das eigentliche Thema ihrer Rede zurückgreifend, betonte sie die Notwendigkeit, dass alle Lehrer sich dafür einsetzten, sowohl die Familien zu überzeugen als auch die Schüler anzuleiten. Das sei vorzugsweise Aufgabe der Lehrerinnen, denn von Frauen betrieben, würde die Propaganda zugunsten einer Disziplin, in der sie sich nicht hervortun konnten, umso stärkere Wirkung entfalten, weil der Verdacht persönlichen Ehrgeizes wegfiele. «Wenden wir uns an die Mütter», sagte sie, «zeigen wir ihnen die wunderbaren Wirkungen der Leibeserziehung, lassen wir sie diese mit Händen greifen, da sie unübersehbar und zwingend sind wie die Ergebnisse der Naturwissenschaft; überzeugen wir sie davon, dass die Gymnastik Kraft und Gesundheit bedeutet und dass Kraft und Gesundheit gleichbedeutend sind mit Heiterkeit, Güte, Mut und Seelengröße! Und wenn Argumente und Beispiele nicht ausreichen, dann bitten wir sie, dann entwinden wir ihnen mit liebevoller Gewalt die schwachen und blutarmen Knaben und Mädchen, dann flehen wir sie an, dass sie uns die jungen Menschen vor Krankheit, Unglück und Tod erretten lassen. Oh! Könnten wir in ihnen allen das unbezwingliche Feuer entfachen, das in uns brennt! Vor allem aber sollten wir den Glauben an uns selbst haben, den glühenden und unbezwinglichen Glauben, dass unsere Idee eines Tages die Idee aller sein wird und dass ein neues Erziehungswesen die Welt neu gestalten werde. Ja. Das glaube ich, wie ich an die Existenz der Sonne glaube, die uns leuchtet. Eine neue Erziehung, gegründet auf die vollendete Ausbildung der physischen Kräfte von Kindern und Jugendlichen wird maßloses Elend abwenden, wird der Menschheit unendliches Leid ersparen, wird zahllose Laster mit der Wurzel ausrotten und es den kommenden Generationen leichter machen, stärker und gerechter, weil besser zu sein und die großen Probleme zu lösen, mit denen sich unsere kranken Hirne und unsere verbrauchten Kräfte jetzt vergeblich herumschlagen. Ich glaube an diese neue Menschheit, liebe Kollegen, die den großen Kündern der Gymnastik bronzene Denkmäler errichten wird; ich glaube an sie, ich sehe sie, ich begrüße und bewundere sie, und ich wünschte, dass alle es für den heiligsten menschlichen Zweck hielten, für sie zu leben und zu sterben!»
    Bei diesem Schluss brach ein Sturm der Begeisterung los. Alle sprangen auf, klatschten in die Hände und schrien. Die Pedani, blass und außer Atem, musste sich drei Mal erheben, um zu danken. Die letzten Worte waren wirklich mit der Wucht apostolischer Begeisterung gesprochen und hatten alle bis ins Mark erschüttert. Als der Beifall abflauen zu wollen schien, schwoll er noch einmal an. Alle Gymnastikfreunde im Saal und auf den Tribünen jubelten. Zwei oder drei Redner, die nach ihr auftraten, wurden kaum noch gehört. Als die Sitzung beendet wurde, brach erneut Beifall los, und die Pedani stieg, umgeben von ohrenbetäubendem Geschrei, von Gratulationen und Vivatrufen, in einem Spalier aus lächelnden Gesichtern und ausgestreckten Händen von ihrem Platz nach unten.
    Noch nicht einmal die Vorstellung von einem menschlichen Lebewesen, das an der Schwelle eines verzauberten Schlosses eine letzte Stunde des Rausches genießt, bevor es durch eine Falltür in den ewigen Kerker gestürzt wird, vermag eine Idee von der Seelenverfassung zu geben, in welcher der arme
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