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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen
Autoren: B Kirchhoff
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Vitaminsaft gekauft und durch dringliches Zureden sogar ein Antibiotikum erhalten, dazu noch ein Faltblatt über die heilige Klara, nach der das holzgetäfelte Arzneireich benannt war. Und mit all dem in einer Tüte ging sie auf den Platz vor der Basilika, wo sie im Jahr des Erdbebens mit Kasper von Baum zu Baum gezogen war, während Renz sich die Krypta anschaute, bis er den Hund übernahm und sie in die Kirche ging, und wo sie, Arm in Arm mit Bühl, schon einmal daran erinnert worden war, sie und Kasper damals hier auf dem Platz: die Wiederholung der Wiederholung. Also las sie jetzt in dem Faltblatt, damit wenigstens irgendetwas Neues dazukäme.
    Das meiste war ihr bekannt, nur nicht, dass man Klara in Italien schon neunzehnhundertachtundfünfzig zur Schutzherrin des Fernsehens ernannt hatte, weil sie der Überlieferung nach in einer Weihnachtsnacht, geschwächt vom Fasten, auf ihrem Bett gelegen habe und zugleich bei einer Feier für den verstorbenen Franz von allen Teilnehmern als anwesend empfunden worden sei. Sie schob den Klara-Flyer wieder in die Apothekentüte und ging über den Platz und betrat die große Kirche und reihte sich in eine Schlange vor dem Zugang zur Krypta; über eine Wendeltreppe ging es hinunter in feuchtes Halbdunkel, beim ersten Besuch enttäuschend, weil sie mit einer Mumie gerechnet hatte. Aber Klaras Überreste waren hinter Stein, den ein Gitter umgab, in einem felsartigen Sarkophag, den viele mit gestreckten Händen zwischen den Stäben hindurch berührten, Gebete murmelnd, und auch sie berührte diesmal den Fels, um wenigstens hier unten eine von vielen zu sein, die nichts weiter vom Leben verlangen als den Beistand einer Toten, ein Berühren mit den Fingerkuppen, ja Kratzen an dem dunklen Felsblock, während andere schon nachdrängten, von hinten warm an sie gelehnt, anonyme Geschwister, nur fiel ihr kein Gebet ein; ihr kam bloß ein Gedanke oder blitzhafter Wunsch, kaum aufgezuckt und auch schon wieder erloschen: dass Renz an seinem Grippefieber sterbe, die Chance für ein zweites Leben. In ihrem Rücken immer mehr Gedränge, und sie löste sich von dem Gitter und ging noch an Klaras ausgestelltem Wollgewand und anderen Reliquien hinter einer gläsernen Wand vorbei, um dann, über eine zweite Treppe, wieder nach oben zu laufen, eine Flucht ans Licht, in die Spätnachmittagssonne auf dem Vorplatz und auch in den Gassen, wo sie sich öffneten. Sie suchte jetzt jeden Sonnenflecken, alles, was heller war als das Bild des toten Renz, verrenkt auf den Kacheln im Bad, und je näher sie dem Hotel kam, desto hastiger ihre Schritte, am Ende lief sie sogar die vier Etagen hinauf, statt den Fahrstuhl zu nehmen.
    Aber Renz lag nicht im Bad, er lag im Bett, halb aufgedeckt schlafend, und sie deckte ihn zu. Dann packte sie die Tüte aus, tat alles auf den Zimmertisch, und zwischen den Schachteln und Flaschen etwas, das sie weder gekauft noch als Dreingabe bekommen hatte, ein Kuvert in der Größe des Faltblatts, darauf ihr Name. Ein Moment ohne Luft, ohne Halt, beispiellos, außerhalb alles Denkbaren, wie der Moment, in dem das Kuvert in die Tüte gelangt war – im Gedränge vor dem Grabsteingitter, wo sonst –, ein Augenblick nur der Dinge, als bewachten all die Sachen auf dem Tisch, die Tabletten, das Thermometer, das Chinaöl und der Vitaminsaft, ja die Tüte mit dem Aufdruck Farmacìa Santa Chiara, den Umschlag, und im nächsten Augenblick machte sie ihn schon auf, darin zwei gefaltete Blätter, ein dünnes mit nur drei Zeilen und ein dickeres, weiches, eng beschrieben, am oberen Rand das Emblem von Alitalia und ein Pinocchio, das Malpapier für die Kleinen auf langen Flügen. Sie ging damit ans Fenster und drückte die Läden halb auf, sie lehnte sich über die Brüstung ins Licht, kaum imstande, die Blätter ruhig zu halten, wenigstens die drei Zeilen zu lesen – Für die in dem großen Wagen, allein in der Enge Assisis. Für die, an die ich denke, statt sie zu küssen.
    Ihr Blick fiel über den Blattrand – unten Pilger in Sandalen, dann ein Priester in Schwarz, er tauchte auf und verschwand, wie sie auf ihrer Fahrt in der Einbahnschleife durch die ganze Stadt an irgendeinem Punkt für Bühl aufgetaucht und wieder verschwunden war, in Richtung oberer Parkplatz, wenn einer sich auskennt. Folglich musste er nur am Fuß der Treppen in einer der Pilgergruppen warten, bis sie von oben kam, zu ihrem Hotel ging, der Rest war Geduld. Und die Belohnung der Geduld dann in der Krypta mit ihren
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